Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Zaur Gasimov

 

Karl Kaser: Balkan und Naher Osten. Einführung in eine gemeinsame Geschichte. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2011. 462 S., 140 Abb., Ktn. = Zur Kunde Südosteuropa, II 40. ISBN: 978-3-205-78624-5.

Dass Kairo, Izmir und Belgrad in einem Buch so prominent vorkommen, wird nicht wenige überraschen. Im mental mapping vieler Intellektueller wird die vermeintliche Europäizität immer noch besonders hoch gehalten. Während das Denken der Historikerinnen und Historiker ausschließlich in den eurozentrischen Kategorien inzwischen fast überwunden ist, dominiert die dreidimensionale Darstellung der Großregionen Europas immer noch.

Man kann den Begriff „Kleineurasien“ des Grazer Historikers Karl Kaser zwar unterschiedlich werten; sein Buch über eine gemeinsame Geschichte des Balkans und des Nahen Ostens hat eine wichtige Bedeutung für die seit gewisser Zeit geführte Diskussion zu Global History, Area Studies, Postkolonialismus, aber auch histoire croisée. Es wurde zwar spätestens seit Halecki und Braudel bewusst, dass man die (außer-)europäische Geschichte nicht immer stringent in der Form einer ost-, südost- und eben westeuropäischen und westasiatischen Geschichte betreiben kann, jedoch entspricht die geschichtswissenschaftliche Grundlagenforschung an den meisten deutschen, aber auch deutschsprachigen Universitäten der Aufteilung in Ost-, Südost- und Westeuropäische Geschichte. Auf diese Art sind die Lehrstühle organisiert und dies prägt die Forschung erheblich bis heute. All das führte, wie Kaser dies treffend in seiner Einleitung erklärt, zur Entstehung derUnzuständigkeit:Diese Unzuständigkeit hat mit der Ein- und Ausrichtung sowie der Verfestigung von historischen, linguistischen und religionswissenschaftlichen Disziplinen während des 19. und 20. Jahrhunderts zu tun – und insbesondere jener, die territorial definiert sind.“ (S. 13).

Das Buch Kasers ist ein Lehrbuch und für Studierende der Geschichte gedacht, die sich mit diesen, häufig in der Forschung als ,vollkommen unterschiedlich wahrgenommenen Weltregionen befassen. Es ist sehr klar gegliedert und führt die Leserschaft in die Unterschiede und Ähnlichkeiten des Nahen Ostens und des Balkans in ihrer gemeinsamen Geschichte seit der Steinzeit bis in die Gegenwart ein. Es handelt sich dabei keineswegs um eine politische Geschichte bloßer Namen und Daten. Man erfährt hier viel über die Familienstruktur, Geschlechterbeziehungen, Entwicklung der Nationalismen und des Sozialismus, Körper und Körperbewusstsein, Städte- und demographische Entwicklung, parallele Industrialisierung sowie ethnische, sprachliche und religiöse Vielfalt dieser miteinander zivilisatorisch eng verbundenen TeileKleineurasiens. In Kapitel 17 geht der Autor auf die dortigenWir“- undder Westen-Bilder ein. Kaser zeichnet die Entwicklung dieser Vorstellungen während der Epoche des Kolonialismus und der darauf folgenden Dekolonialisierung, die hier keinEnde der Geschichte, sondern ein Übergangsstadium ins Zeitalter des Postkolonialismus ist. Im letzten Teil des Kapitels erfahren die Leserinnen und Leser etwas über die in der Forschung seit Edward Said und Maria Todorova gängigen Begriffe wie Orientalismus, Balkanismus und Okkzidentalismus. Bekannterweise handelt es sich gerade bei diesen Begriffen nicht nur um Denkströmungen in der westlichen Historiographie, sondern um einen wichtigen Paradigmenwechsel, der es ermöglichen könnte, die resistente nationalstaatliche Tradition der Geschichtsschreibung zu überwinden.

Das Buch enthält Bilder und historische Photoaufnahmen, die den Stoff anschaulicher machen. Jedes Kapitel schließt mit einem bibliographischen Überblick über Literatur in westlichen Sprachen ab. Am Ende des Buches ist ein Glossar der wichtigsten Termini sowie ein Index zu finden.

Zaur Gasimov, Istanbul

Zitierweise: Zaur Gasimov über: Karl Kaser: Balkan und Naher Osten. Einführung in eine gemeinsame Geschichte. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2011. 462 S., 140 Abb., Ktn. = Zur Kunde Südosteuropa, II 40. ISBN: 978-3-205-78624-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Gasimov_Kaser_Balkan_und_Naher_Osten.html (Datum des Seitenbesuchs)

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