Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Jörg Ganzenmüller

 

Andrea Zemskov-Züge: Zwischen politischen Strukturen und Zeitzeugenschaft. Geschichtsbilder zur Belagerung Leningrads in der Sowjetunion 1943–1953. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2012. 320 S., Graph. = Formen der Erinnerung, 49. ISBN: 978-3-89971-911-6.

Der „Große Vaterländische Krieg“ hat einen zentralen Platz im russischen Gedächtnis an das 20. Jahrhundert. Eine besondere Rolle kam dabei schon immer der Belagerung Leningrads zu. Die staatliche Geschichtspolitik verherrlichte die fast 900-tägige deutsche Hungerblockade zu einem heldenhaften Abwehrkampf, für viele Leningrader war es hingegen eine Zeit des Leidens und des Sterbens. Die jeweilige Kriegserfahrung und die nachträgliche Idealisierung sind zu einem Geschichtsbild amalgamiert, welches das notgedrungene Ausharren in der belagerten Stadt als einen Akt des Widerstandes glorifiziert und im lautlosen Verhungern den Ausdruck moralischer Festigkeit sieht.

Andrea Zemskov-Züge geht in ihrer Konstanzer Dissertation den Ursprüngen dieses Geschichtsbildes nach. Sie sieht darin das Ergebnis einer Geschichtspolitik, die bereits im Krieg einsetzte und deren Grundzüge in der unmittelbaren Nachkriegszeit voll ausgeprägt wurden. Drei Akteursgruppen hatten einen prägenden Einfluss auf das Bild von der Blockade: Historiker, Schriftsteller und das Museum zur Verteidigung Leningrads. Allerdings erzählten diese drei Akteure unterschiedliche Varianten ein und derselben Geschichte. Es ist das Verdienst von Zemskov-Züge, dass sie diesen frühen Narrativen nachgeht, den Zusammenhang von geschichtspolitischer Intentionen und Kriegserinnerung analysiert und somit die Genese eines staatlichen Geschichtsbildes nachvollzieht und veranschaulicht.

Die Geschichtsschreibung zur Blockade Leningrads begann bereits während des Krieges. Im April 1943 wurde eine Kommission gegründet, die mit dem Sammeln und der Aufbereitung von Quellenmaterial beauftragt war. Die Federführung hatte das Institut für Parteigeschichte. Dessen Historiker verstanden ihre Aufgabe nicht etwa darin, möglichst viele Überreste und Quellen zu sammeln und aufzubewahren, sondern vielmehr eine Selektion der Überlieferung vorzunehmen. Sie führten zahlreiche Interviews mit Parteifunktionären, Frontkommandeuren, Anführern von Partisaneneinheiten und Fabrikdirektoren. Sie initiierten Erinnerungstreffen, auf denen die Menschen in der Sprache des Regimes von ihren Erlebnissen berichteten. Tabuthemen blieben hier natürlich außen vor. Diese Form der Geschichtsschreibung stand personell, institutionell und inhaltlich ganz in der Kontinuität der Kriegspropaganda. Die Leistungskraft des Systems und der starke Wille seiner Menschen standen im Zentrum dieses Geschichtsbildes, das nicht zuletzt eine Vorbildfunktion für den anstehenden Wiederaufbau ausüben sollte. Es ist symptomatisch, dass die Publikationen des Instituts für Parteigeschichte gar keinen Gebrauch von den Aussagen der Interviewten machten, sondern einfach nur Kriegsreden der Parteiführer und anderes Propagandamaterial vortrugen.

Eine Reihe von Schriftstellern entwarf hingegen ein ganz anderes Bild von der Belagerung Leningrads. Ol’ga Berggol’c oder Vera Inber beschrieben den Alltag einer hungernden Bevölkerung und sparten nicht mit schonungslosen Details. Sie stießen damit allerdings auf massive Kritik von Seiten der Partei und mancher Kollegen: Die geschilderten Alltagsszenen seien „naturalistisch“, die Beschreibung der Physiognomie von Hungernden und Toten „klinisch“ und die Texte „qualvoll“ zu lesen. Das Leiden und Sterben der Leningrader war jedoch mit den Ausdrucksmöglichkeiten des Sozialistischen Realismus nicht zu fassen. Regimetreue Schriftsteller bevorzugten deshalb Geschichten von der Front oder schilderten Szenen des Wiedersehens nach Kriegsende. Nikolaj Tichonov wurde zum Wortführer jener Literaten, welche die Leningrader als Helden sahen. Auf ihre ganz eigene Weise schrieben allerdings auch Berggol’c und Inber an dieser Heldengeschichte mit. Indem sie die Mitmenschlichkeit der Leningrader hervorhoben, machten sie aus ihnen „Helden des Alltags“. Auch wenn sie einen anderen Akzent als die Parteihistoriker setzten, so waren die beiden Geschichtsbilder doch ähnlicher, als sich die Protagonisten wohl selbst bewusst waren. Eine Geschichte des Leidens im heroischen Duktus ließ sich auch in eine Heldenerzählung integrieren.

Als dritten Akteur stellt Zemskov-Züge das Museum zur Verteidigung Leningrads vor. Es wurde bereits 1944 eröffnet und stellte seine umfangreiche Sammlung in 38 Sälen aus. Seine Bedeutung für die Ausformung des Geschichtsbildes von der Blockade ist kaum zu überschätzen, gehörte es doch nach dem Krieg zu den meistbesuchten Museen der Stadt. Die Ausstellung versuchte einen Spagat zwischen der heroischen Darstellung der Parteihistoriker und der literarischen Verarbeitung der Blockadeerfahrung. Die Popularität des Museums deutet darauf hin, dass diese Integration konkurrierender Geschichtsbilder gelang. Allerdings musste die Ausstellung ihre Pforten bereits fünf Jahre nach der Eröffnung schon wieder schließen. Im Zuge der „Leningrader Affäre“, einer spätstalinistischen Säuberung der Leningrader Partei, fiel auch das Museum zur Verteidigung Leningrads in Ungnade. Man warf der Ausstellung vor, einen Leningrader Lokalpatriotismus zu schüren – eine Anschuldigung, die man auch den angeklagten Leningrader Parteifunktionären machte.

Insgesamt zeigt die Untersuchung von Andrea Zemskov-Züge, dass hinter der staatlichen Geschichtspolitik der Sowjetunion unterschiedliche Akteure mit jeweils eigenen Geschichtsbildern standen. Diese geschichtspolitischen Akteure entwickelten ihre Sicht des Krieges vor dem Hintergrund politischer Intentionen, ideologischer Vorstellungen und der eigenen Kriegserfahrung. Die Variationsmöglichkeiten waren allerdings eng begrenzt. Dies zeigt nicht zuletzt die „Leningrader Affäre“, in deren Zug alternative Deutungen aus der öffentlichen Darstellung verbannt wurden. Dennoch gelang es dem Regime zu keiner Zeit, die Erinnerung an Krieg und Blockade vollständig nach seinen Vorstellungen zu formen. Im Zuge der Entstalinisierung und insbesondere durch Gorbačëvs Politik der Glasnost lebten gerade jene Geschichtsbilder wieder auf, die lange Zeit tabuisiert waren. Die heutige Erinnerungslandschaft setzt sich aus individuellen Erfahrungen, mündlich tradierter Erinnerung und staatlich geprägten Geschichtsbildern zusammen. Die Ursprünge der staatlichen Geschichtsbilder hat Andrea Zemskov-Züge überzeugend offengelegt, die Gründe für deren Langlebigkeit bleiben aufgrund des zeitlichen Zuschnitts der Arbeit jedoch offen.

Jörg Ganzenmüller, Jena

Zitierweise: Jörg Ganzenmüller über: Andrea Zemskov-Züge: Zwischen politischen Strukturen und Zeitzeugenschaft. Geschichtsbilder zur Belagerung Leningrads in der Sowjetunion 1943–1953. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2012. 320 S., Graph. = Formen der Erinnerung, 49. ISBN: 978-3-89971-911-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Ganzenmueller_Zemskov-Zuege_Zwischen_politischen_Strukturen.html (Datum des Seitenbesuchs)

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