Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: David Franz

 

Anton Sterbling: Wege der Modernisierung und Konturen der Moderne im westlichen und östlichen Europa. Wiesbaden: Springer, 2015. 197 S. = Europa – Politik – Gesellschaft. ISBN: 978-3-658-07050-2.

Unter dem Eindruck sich krisenhaft zuspitzender geopolitischer Verhältnisse in der Ukraine, aber auch angesichts der sich in mehreren Staaten Ost- und Südosteuropas neu stellenden Fragen nach sozialen Ordnungsmustern erscheinen „moderne, demokratische, rechtsstaatliche und marktwirtschaftliche Institutionen“ (S. 1) in dieser Weltregion als wenig konsolidiert. Dieser Befund veranlasst Anton Sterbling, nach den spezifischen Bedingungen und Erscheinungsformen von Moderne und den verschiedenartigen Verläufen von Modernisierungsprozessen im westlichen und östlichen Europa zu fahnden. Themen, die „seit über drei Jahrzehnten den wichtigsten Schwerpunkt“ (S. 1) seiner wissenschaftlichen Arbeit bilden, wie er mit zahlreichen Verweisen auf seine bisherigen Arbeiten belegt.

Die aus diesen Überlegungen entstandene Abhandlung ist in drei Abschnitte unterteilt. Der erste ist der Kritik als Fundament modernen europäischen Denkens gewidmet. Der zweite Teil versucht, der mittlerweile sprichwörtlich gewordenen Ambivalenz des Moderne-Begriffs (Stichwort „multiple modernities“) mittels ihrer Verortung in Kunst und Religion zu neuer Kontur zu verhelfen. Im dritten Teil werden schließlich die Wechselwirkungen jedes Einzelnen mit modernen oder sich modernisierenden Gesellschaften beleuchtet. Sterbling gliedert seine Betrachtung von Modernisierungsprozessen auf diese Weise entlang der Kategorien Idee, Konzept und Individuum. Dieses Vorgehen bietet dem Leser eine klare Orientierung, wie sie mit dem Anspruch einer möglichst ganzheitlichen Behandlung eines so vielschichtigen Themas nicht leicht zu vereinbaren ist.

Die universelle Kritik des okzidentalen Rationalismus wird von Sterbling als Anfangspunkt moderner Denktraditionen anerkannt und damit als zentraler Bedingungsfaktor moderner Gesellschaftsordnungen identifiziert. Der Realitätsabgleich zwischen Anspruch und Wirklichkeit einer sich als modern verstehenden Gesellschaft erfolgt durch qualifizierte Kritik an den herrschenden gesellschaftlichen und politischen Umständen. Diese Aufgabe fällt, so zitiert der Autor Theodor Geiger, vor allem den Intellektuellen zu, welche dieses Geschäft am besten mit ausreichender Distanz zur Macht (S. 13) und unter Vermeidung von Werturteilen (S. 17–36) betreiben sollten. Den dafür notwendigen Wissensgrundlagen und deren derzeit sowohl qualitativ als auch quantitativ rasant fortschreitendem Wandel gehört einer der erkenntnisreichsten Abschnitte dieses ersten Teils (S. 39–66).

Angesichts des Buchtitels ist man geneigt, eine vergleichende oder regionalspezifische Untersuchung zu erwarten. Diese bietet Sterblings von immenser Kenntnis soziologischer Theorie zeugendes Werk mangels konkreter Fallbeispiele und regionaler Gegenüberstellungen nicht. Im zweiten Teil, der eine „Anwendung“ prozessbestimmender Konzepte „auf das südöstliche Europa“ (S. 87) verspricht, bleibt er ebendiese schuldig und kreist weitab des Konkreten durch die rein theoretischen Sphären der historischen Modernisierungsforschung. Diese stellt er dafür äußerst gelungen dar. Lediglich in einem kurzen Abschnitt werden Hindernisse für gesellschaftliche Modernisierung anhand regio­nalspezifischer Schlagworte („Etatismus“, „Klientelismus“, „öffentliches Misstrauen“) mit den realen Gegebenheiten der soziopolitischen Räume Ost- und Südosteuropas verwoben (S. 102–109). Auch die kommunistische Herrschaft mit ihren bis heute nachwirkenden spezifischen Elitenkonfigurationen wird als augenfälligstes gemeinsames Merkmal osteuropäischer Gesellschaften gegenüber westeuropäischen nicht weiter empirisch untermauert, auch wenn der Autor auf entsprechende eigene Studien verweist (S. 108). So hätten die dadurch bedingten Entwicklungsverzögerungen der osteuropäischen Zivilgesellschaften, die Sterbling nur als Stichwort nennt, näher erörtert werden können.

Im dritten Teil, der die Bedingungen von Demokratie und die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Individuum und Kollektiv einerseits sowie gesellschaftsspezifische Mechanismen sozialen Interessenausgleichs andererseits zum Gegenstand hat, entschädigt der Soziologe Sterbling den Leser für die zuvor vermissten konkreten Bezüge. Das Ineinander und Nebeneinander traditionaler, um Begriffe wie „Ehre“ und „Familie“ aufgebauter, und individualistischer, den Anspruch eines jeden Einzelnen auf Teilhabe am modernen Wohlfahrtsstaat propagierender Gesellschaftskonzepte schlüsselt er gut nachvollziehbar auf. Von den dazwischenliegenden Schattierungen bekommt der Leser ebenfalls ein klares Bild, jedoch hätte auch hier ein aktueller Bezug zur Illustration den Erkenntnisprozess befördert. Dass beispielsweise die Herausforderungen von Einwanderungsgesellschaften in exakt dieser Gleichzeitigkeit eigentlich ungleichzeitiger sozialer Ordnungskonzepte bestehen und sich aus dieser Erkenntnis auch Anhaltspunkte zur Bewältigung dieser Probleme ergeben, hätte durchaus eine Erwähnung verdient.

Mit fortschreitender Lektüre erweist sich trotz der erhellenden soziologischen Aufarbeitung des Modernisierungsparadigmas der fehlende Bezug des Gesamttextes zum Buchtitel als irritierend. Der Zielsetzung des Buches, unter dem Eindruck aktueller Entwicklungen die spezifischen Bedingungsfaktoren von modernen Gesellschaftsordnungen im westlichen und östlichen Europa aufzuzeigen und (so kann man an Hand des Titels annehmen) miteinander zu vergleichen, wird nicht entsprochen. Dem Autor gelingt stattdessen eine tiefschürfende Betrachtung der verschlungenen Pfade, Umwege und Sackgassen gesellschaftlicher Modernisierung, die er auf überzeugende Weise an die Protagonisten der klassischen (Max Weber) und neueren (Ulrich Beck) Soziologie anzubinden versteht.

David Franz, Regensburg

Zitierweise: David Franz über: Anton Sterbling: Wege der Modernisierung und Konturen der Moderne im westlichen und östlichen Europa. Wiesbaden: Springer, 2015. 197 S. = Europa – Politik – Gesellschaft. ISBN: 978-3-658-07050-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Franz_Sterbling_Wege_der_Modernisierung.html (Datum des Seitenbesuchs)

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