Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: David Franz

 

Melanie Ilic: Life Stories of Soviet Women: The Interwar Generation. London, New York: Routledge, 2013. XIII, 184 S., 15 Abb., 1 Kte. ISBN: 978-0-415-81469-0.

„Oral History“ besaß in der UdSSR ohne Zweifel eine ‚ruhmreiche‘ Tradition, dienten wissenschaftlich bearbeitete persönliche Erinnerungen doch in erster Linie dazu, sowjetische Kriegskunst, Fortschrittlichkeit, Gerechtigkeit und Weiteres mehr in das Schaufenster der (historischen) Öffentlichkeit zu stellen. Melanie Ilics alltagsgeschichtlich angelegte Untersuchung tritt dagegen mit dem erklärten Ziel an, nicht nur eine Geschichte einzelner sowjetischer Frauen zu schreiben, sondern dabei gleichzeitig das Persönliche im Historischen zu verorten. Die ‚kleinen Geschichten‘ sollen mit der ‚großen‘ produktiv übereinander gelegt; die Hegemonie, die das Öffentliche in der Geschichtsforschung über das Private ausgeübt hatte, soll gebrochen werden. Der vielfach beklagten Unterrepräsentation weiblicher Protagonistinnen und ihres Blickwinkels in historischen Betrachtungen entgegenzuwirken, stellt ein weiteres wichtiges Ziel der Arbeit dar. („The task of feminist researchers has been not only to write the history of women, but also, as Lynn Abrams has noted, to put ‚the personal into the historical‘.“, S. 3).

Hierfür die Methode des Zeitzeugeninterviews zu wählen, die sich traditionell den Vorwurf der Subjektivität gefallen lassen muss, scheint für die alltagsgeschichtliche Ebene gut begründet. Für die Rückbindung des persönlich Erlebten an die Meilensteine sowjetischer Geschichte bedurfte es allerdings einer gezielten und vorstrukturierten Interviewführung. Beides lässt sich mit dem selbstgesteckten Ziel der Autorin, mit offenen Fragen zu operieren (S. 6) und ihren Einfluss als Interviewerin zu minimieren, auf den ersten Blick nicht in Einklang bringen („One of the aims was to remove myself as interviewer from the resulting narratives.“ S. 7).

Acht Einzelinterviews zeichnen auf einer zeitlichen Achse vom Amtsantritt Stalins bis hin zur Gegenwart die kleinen und manchmal auch kleinsten Linien sowjetischer Geschichte nach. Die zwischen 1927 und 1944 geborenen Frauen erzählen ihre Lebensgeschichten, deren Darstellungen in individuell unterschiedlicher Abfolge in die Abschnitte Kindheit, Krieg, Ausbildung, Familiengründung, Karriere und Gegenwartsanalyse zerfallen. Zwar gehörten alle Interviewten als Erwachsene zur sowjetischen Elite, dennoch unterscheiden sie sich bezüglich ihrer Herkunft ganz erheblich. Neben den Lebensgeschichten ‚geborener‘ Abkömmlinge aus der Elite wie Rada Nikitična Adžubej (der Tochter Nikita Chruschtschows) stehen solche wie die von Galina Petrovna Kosterina, die über Bildung und Heirat aus einfachsten Verhältnissen in den Dunstkreis des Nomenklaturadels aufgestiegen ist (S. 45).

Den Fokus der einzelnen Schilderungen bilden stets die Herausforderungen, vor denen die Frauen im Privatleben, aber auch in ihrem Kontakt zum politisch-sozialen System der Sowjetunion standen. Die privaten Schilderungen differieren naturgemäß sehr stark und dienen im Gesamtaufbau der allmählichen Hinführung zu und der Überleitung zwischen den entscheidenden Lebensphasen. Dabei kommt der Perspektivierung, die durch die Alltagsschilderungen des individuellen, auch privaten Erlebens sehr gut gelingt, entscheidende Bedeutung zu. In diesen Fluss aus scheinbar Nebensächlichem eingebettet bilden sich die Komplexe Nationalitäten- und Minderheitenpolitik, das Bildungssystem, Religionspolitik, Partnersuche und Eheschließung, sowie die Kinderbetreuung als zentrale Themen heraus, ohne explizit als solche eingeführt zu werden.

Das Verhältnis zu den eigenen Kindern steht auch im Mittelpunkt des Generationenvergleichs, dem in umfangreichen Exkursen großer Raum gegeben wird. Aus diesem Vergleich ergeben sich Aufstiegs- und Prosperitätsnarrative, da beispielsweise die eigene, oftmals als entbehrungsreich oder gefahrvoll empfundene Kindheit und Jugend der Zwischenkriegs- und Kriegszeit mit den als insgesamt besser wahrgenommenen Lebensumständen der nächsten Generation kontrastiert wird. Diese Aufstiegsnarrative bewegen sich allerdings ausschließlich innerhalb des chronologischen Rahmens der Jahre von 1917 bis 1991, während derer sich nach Aussage der Interviewpartnerinnen alle genannten zentralen Aspekte weiblichen Lebens stetig verbesserten. So werden die Entspannung der Ernährungssituation, die ausgeweiteten, wenn auch von politischen Faktoren abhängigen Bildungschancen sowie die Verbesserungen bei Mutterschutz und Kinderbetreuung gegenüber der gleichbleibend schwierigen Vereinbarkeit von Beruf und Familie hervorgehoben. Die Zeit seit der Perestroika Gorbatschows und noch mehr die Zeit nach 1991 fällt in der individuellen Bewertung in all diesen Punkten gegenüber der Sowjetzeit drastisch ab. Mit Ausnahme der Menschenrechtsaktivistin Ljudmila Michajlovna Alekseeva, die wegen ihrer Aktivitäten in die USA emigrieren musste, wird so immer auch ein starkes Nostalgie-Moment in den abschließenden Bemerkungen der Interviewten spürbar.

Die Schilderungen sind ohne Ausnahme extrem detailliert und geben ungewohnte, eben alltägliche, Einblicke in das Leben der Frauen. Dabei gehen Ilic respektive ihre Interviewpartnerinnen teilweise so weit, dass sich dem Leser der einzelnen Interviews immer wieder die Frage aufdrängt, ob hier nicht die Grenze zum Belanglosen überschritten wird, das Interview gleichsam zum ziellosen Plausch verkommt. In der Zusammenschau aller Texte jedoch ergibt sich aus den für sich genommenen wenig aussagekräftigen Abschnitten eine kontinuierliche Struktur, die jeweils an den neuralgischen Punkten hervortritt, an denen sich die Lebensgeschichten der Frauen mit den Wegmarken der russisch-sowjetischen Geschichte seit 1926 überkreuzen. Kristallisationspunkte wie die Stalinistischen Säuberungen 1937, die so einschneidende wie einigende Kriegserfahrung und Chruschtschows „geheime Rede“ 1956 kommen in allen Lebensgeschichten vor und leuchten in jeweils unterschiedlicher Weise im Bewusstseinsstrom der Erzählerinnen auf, ohne diesen zu dominieren. Die Einstellung der Perspektive auf die Nahtstelle zwischen kleinteiligem Sowjet-Alltag und ‚großer‘ Sowjet-Geschichte wäre ohne die auf den ersten Blick allzu unwichtig erscheinenden Details nicht erfolgt.

Grundlegende, in der russischen Gesellschaft bis heute andauernde Deutungskonflikte wie die Einordnung des Stalinistischen Terrors erhalten aus den jeweils sehr unterschiedlichen Blickwinkeln der Frauen eine Plastizität und Mehrdimensionalität, wie man sie ohne das Mittel des Interviews wohl nur schwierig erreicht. Neben solchen Beispielen gegeneinander verlaufender Deutungsmuster werden aber auch von allen geteilte Einschätzungen, etwa die positive Bewertung der sozialen Errungenschaften der UdSSR oder der kollektiven Kraftanstrengung des „Großen Vaterländischen Krieges“, überzeugend aufgezeigt.

Entgegen den eingangs formulierten Zweifeln funktioniert die Methode des Interviews also durchaus zum Ineinanderlegen verschiedener Betrachtungsebenen zur sowjetischen Geschichte und sie eröffnet interessante Blickwinkelverschiebungen. Die Akribie, mit der Ilic ihre gezielte Interviewführung betreibt, wird allerdings bei der Quellenkritik und insbesondere bei der in der Einleitung angekündigten Kontextualisierung (S. 6) nicht erreicht. Jedes Interview wird zwar durch einen kurzen Absatz mit Informationen über die jeweilige Interviewpartnerin eingeleitet, dieser kommt aber über den Charakter eines knappen Steckbriefs kaum hinaus. Eine ausführlichere Einbettung der einzelnen Interviews in einen spezifischen regionalen oder sozialen Kontext hätte für den Umgang mit dem ohnehin nur knapp 140 Seiten umfassenden Textcorpus eine erhebliche Erleichterung bedeutet. Dies hätte das gelungene Perspektivspiel, mit dem Melanie Ilic einen neuen, ungewohnten Blick auf die sowjetische Geschichte freigibt, für ein breiteres, etwa biografisch interessiertes Publikum erschließen können.

David Franz, München

Zitierweise: David Franz über: Melanie Ilic: Life Stories of Soviet Women: The Interwar Generation. London, New York: Routledge, 2013. XIII, 184 S., 15 Abb., 1 Kte. ISBN: 978-0-415-81469-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Franz_Ilic_Life_Stories.html (Datum des Seitenbesuchs)

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