Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Pablo Fontana

 

Medien zwischen Fiction-Making und Realitätsanspruch. Konstruktionen historischer Erinnerungen. Hrsg. von Monika Heinemann, Hannah Maischein, Monika Flacke, Peter Haslinger und Martin Schulze Wessel. München: Oldenbourg, 2011. VII, 368 S. , Abb., Graph., Tab. = Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 121. ISBN: 978-3-486-70660-4.

Inhaltsverzeichnis:

http://d-nb.info/1010875329/04

 

München, September 2009: Geschichts-, Medien- und Kommunikations-Wissenschaftler und ‑Wissenschaftlerinnen verschiedener europäischer Länder treffen sich im Historischen Kolleg um ihre Forschungsergebnisse zu präsentieren und zu diskutieren. Schwerpunktthema ist die Konstruktion historischer Erinnerung an die Kriegs- und Besatzungs-Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs durch Medien und insbesondere deren Realitätsanspruch und Inszenierung. Eingebettet ist die Konferenz in das von der Volkswagen-Stiftung großzügig unterstützte Forschungsprojekt über Musealisierung der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und der NS-Besatzung des östlichen Europas. Zwei Jahre später ist nun ein Großteil der vorgetragenen Reflektionen und Ergebnisse in einem 380 Seiten umfassenden Band zusammengestellt und im Oldenburg Verlag unter dem Titel der Konferenz publiziert.

Es handelt sich um eine Auswahl von fünfzehn Arbeiten, welche, der Art des Mediums und konkreten Beispielen folgend, in fünf Teilabschnitten zu je drei Kapiteln gegliedert sind. Den Artikeln ist eine unverzichtbare Einleitung vorangestellt, die eine Einführung in die Problematik und einen Überblick über die zentralen Argumente der unterschiedlichen Beiträge bietet. Die Autoren dieses überaus wertvollen Prologs sind gleichzeitig einige der Herausgeber des Werkes: Martin Schulze Wessel, Monika Flacke und Peter Haslinger.

Die Aufsatzsammlung beginnt mit dem Teilabschnitt Fotografie. Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Diskussion ist dabei der Widerspruch zwischen dem dokumentarischen Wert historischer Fotografien und ihrer diskursiven Funktion. Dieser Problemstellung folgend, skizziert Hannah Maischein in Anlehnung an die Aussagen Didi-Hubermans und Claude Lanzmanns (u.a.) die theoretischen Grundlagen der Eigenschaft fotografischer Dokumente alssekundäre Augenzeugender Shoah. Anschließend ist zu Recht der Beitrag von Ekaterina Keding positioniert. Die Autorin verdeutlicht die Instrumentalisierung der Fotografien, welche die Hinrichtung der jüdischen Widerstandsheldin Maša Bruskina zeigen. In Anbetracht ihrer Funktion als Schlüsselbilder für den Identitätsbildungsprozesses einer Gesellschaft sind diese mehr als ausreichend, um die Besonderheiten der Geschichtspolitik in Belarus zu ergründen. Der Entstehung der Bilder, als einem anderen Aspekt bei der Betrachtung fotografischer Dokumente, widmet sich Sandra Starke. Sie konzentriert sich auf die Bedingungen und Voraussetzungen für die von den amerikanischenSignal Corpsgetätigten fotografische Produktion über den Zweiten Weltkrieg. Die Autorin resümiert nicht all zu überraschend, dass die Fotografien bzw. Ikonen dieser Kompanie, deren Authentizität a priori angenommen und nicht hinterfragt wurde, vielmehr kritisch betrachtet werden müssen.

Der Teilbereich Bild und Text beginnt mit einer Exegese des Comics als eines der beliebtesten grafischen Medien. Kathrin Kollmeier gelingt es, die in Frankreich vollzogene Diskurswende von der Verdrängung und dem de Gaulleschen Gründungsmythos hin zu einer obsessiven Thematisierung desVichy-Syndromsexemplarisch zu verdeutlichen. Sie unternimmt dazu eine medienspezifische Lektüre zur Geschichtsdarstellung in zwei französischen Comics: der bunten Tierallegorie „La Bête est morte“ (1944/45) und des historischen Comic „120, rue de la Gare“ (1988). Ein wenig erforschtes Medium, das heutzutage jedoch mit Sicherheit eines der zentralen bei der Konstruktion eines Geschichtsbildes unter Jugendlichen darstellt, dient Steffen Bender als Forschungsobjekt: Computerspiele mit dem Zweiten Weltkrieg als Handlungsgrundlage. Dabei unterteilt Bender die Spiele in drei unterschiedliche Genres, von denen die Strategiespiele auf Grund ihrer Funktion als Generatoren kontrafaktischer Geschichtsdarstellung hervorzuheben sind. Ein enormes Potential für die Konstruktion historischer Erinnerung scheinen hingegen die von Michael J. Eble analysierten interaktiven Webplattformen und sozialen Medien aufzuweisen. So stellen diese ein Medium dar, bei dem der Konsument durch die ihm gegebene Möglichkeit der Rekonstruktion und Vermittlung von Inhalten aktiv in den Prozess der Geschichtsschreibung eingreifen kann.

Der dritte Abschnitt des Tagungsbandes widmet sich dem in den letzten Jahren vielleicht am umfangreichsten erforschten Medium im Rahmen der Erinnerungskultur: dem Film. Michael Zok analysiert die Strategien der Generierung von Authentizität anhand von vier herausragenden Spielfilmen polnischer Regisseure der Nachkriegszeit, denen die Lager- und Kriegsthematik gemein ist. Anschließend untersucht Christian Hißnauer die fernsehgeschichtlichen Vorläufer des Doku-Dramas, die er bei den Dokumentar- und Fernsehspielen der BRD über den Nationalsozialismus während der 70er Jahre ansiedelt. An dieser Stelle stößt der Leser auf eine Kritik, die in verschiedenen Artikeln des Buches durchscheint: Bezüglich einer Medienstrategie optieren die Autoren weniger für die Imitation der Geschichte in Form eineswie es wirklich gewesen ist, sondern sie fordern vielmehr eine Interpretation in Form einesso könnte es gewesen sein, was selbstreflexive Elemente und antirealistische Inszenierungsweisen impliziert. Jürgen Kniep befasst sich anschließend nicht mit dem Medium selbst, sondern mit der Kontrolle, der es unterworfen ist. So analysiert er die Zensur bei Kriegsfilmen und deren Rezeption in der Bundesrepublik Deutschland der 50er und 60er Jahre. Erwähnenswert ist vor allem die Aufklärung über den korporativen Einfluss auf die FSK (Film-Selbstkontrolle) von Seiten der Filmwirtschaft, des Staat und der Kirchen, sowie über die Eigenlogik und Unterordnung der FSK unter die Außenpolitik der BRD.

In den drei Beiträgen über das Medium Ausstellung/Museum lassen sich die Emotionen als zentrales medienspezifisches Wirkungselement ausmachen. Dementsprechend analysiert Monika Heinemann wie der Titel ihres Beitrags bereits andeutet Emotionalisierungsstrategien in historischen Ausstellungen am Beispiel ausgewählter Warschauer Museen(Gefängnismuseum Pawiak und Museum des Warschauer Aufstands). Der Autorin gelingt es durch die Beschreibung der Ausstellungen zu verdeutlichen, inwiefern der Gebrauch christlicher Symbolik eine gewollte Sakralisierung der Ereignisse entstehen lässt. Das zentrale Moment der Emotionen beschäftigt auch Birgit Schwelling in ihrem Beitrag über die in den 50er bis 70er Jahre durchgeführte deutsche Wanderausstellung „Wir mahnen. Erlebnis ist Aufgabe“. Dieser bescheinigt sie eine einseitige Viktimisierung der deutschen Kriegsgefangenen in sowjetischen Lagern, die das Massensterben sowjetischer Kriegsgefangener außer Acht lässt. Eine weitaus tiefergehende Betrachtung emotiver Erfahrungen bei Ausstellungen und ihrer Wirkungslogik gelingt Bernadette Fülscher. Anhand der Betrachtung von zwei historischen Ausstellungen widmet sich die Autorin in ihrer vergleichenden Analyse den Möglichkeiten szenografischer Gestaltung. Sie übt eine heftige, aber gerechtfertigte Kritik an der Tendenz, Abwesendes und somit Geschichte simulieren zu wollen, und verteidigt stattdessen die Strategie, die Haltung der Autoren zu übermitteln.

Der fünfte und letzte Teil des Buches über Denkmäler und Gedenkstätten beginnt mit der Auseinandersetzung Ekaterina Makhotinas mit Entstehung und Entwicklung der Gedenkstätten zumGroßen Vaterländischen Kriegin St. Petersburg und Petrozavodsk. Aus historischer Perspektive betrachtet sie dabei den Ursprung der verwendeten Symbole und Formen, wie auch den Wandel von einer homogenen und standardisierten sowjetischen Denkmallandschaft hin zur Individualisierung und Fragmentierung des Gedenkens im postsowjetischen Russland. In dem Artikel von Stephan Schulz werden die Vertriebenendenkmäler in der Bundesrepublik als Medien konkurrierender Erinnerungskulturen definiert, was sich an den Interventionen zugunsten der Opfer der NS-Vernichtung erkennen lässt. Piotr M. Majewski untersucht abschließend die Trends in der Veränderung und Entwicklung der Formen des Gedenkens in polnischen KZ-Gedenkstätten (Auschwitz-Birkenau, Stutthof, und Majdanek mit seiner Abteilung in Bełżec). Besonderes Augenmerk legt er auf die Befreiung dieser Museen aus der ideologischen Kontrolle nach 1989.

Durch die Auswahl der Beiträge gelingt es zwar, einen überaus gelungenen multimedialen und transnationalen Überblick zu schaffen, doch wäre es der Vollständigkeit halber sinnvoll gewesen, weitere Medien wie Zeitungen, Theater, Malerei (besonders der sozialistische Realismus während der Sowjetunion) oder Radio die in der Einleitung sogar genannt werden nicht außer Acht zu lassen. Allemal schaffen es die Herausgeber, eine Sammlung überaus interessanter Forschungsergebnisse, neuartiger Überlegungen und Dissertationsvorhaben über die Rolle der Medien in der Erinnerungskultur zusammenzustellen, die bei den Lesern mit Sicherheit Neugier auf die fertigen Abschlussarbeiten zu erwecken vermögen.

Pablo Fontana, Buenos Aires

Zitierweise: Pablo Fontana über: Medien zwischen Fiction-Making und Realitätsanspruch. Konstruktionen historischer Erinnerungen. Hrsg. von Monika Heinemann, Hannah Maischein, Monika Flacke, Peter Haslinger und Martin Schulze Wessel. München: Oldenbourg, 2011. VII, 368 S. , Abb., Graph., Tab. = Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 121. ISBN: 978-3-486-70660-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Fontana_Heinemann_Medien_zwischen_Fiction-Making_und_Realitaetsanspruch.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2014 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Pablo Fontana. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.