Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 4 (2014), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Moritz Florin
Maike Lehmann: Eine sowjetische Nation. Nationale Sozialismusinterpretationen in Armenien seit 1945. Frankfurt a.M., New York: Campus, 2012. 442 S., 21 Abb. = Eigene und fremde Welten, 26. ISBN: 978-3-593-39492-3.
Wie im Titel präzise formuliert, untersucht Maike Lehmann in ihrer Berliner Dissertation „nationale Sozialismusinterpretationen in Armenien seit 1945“. Sie befasst sich mit anderen Worten mit der Frage, wie sich Menschen in der Sowjetrepublik Armenien – gemeint sind unter anderem Politiker, Intellektuelle, Kulturschaffende, Geistliche, aber auch ‚einfache‘ Armenier – in der Nachkriegszeit in ihrer real existenten, territorial festgelegten und scheinbar unhintergehbaren „sowjetischen Nation“ einrichteten. Lehmann interessiert sich dabei nicht nur dafür, wie Nation und Sozialismus gegeneinander ausgespielt wurden, sondern auch dafür, wie sie sich miteinander verschränkten. Nicht „Opposition“ und „Dissidenz“, sondern Hybridität und Repräsentation sind zentrale Begriffe ihrer Studie.
Armenien ist insofern ein spannendes Beispiel für eine solche Hybridisierung von Sozialismus und Nation, als hier eine – wie viele Zeitgenossen meinten – besonders sowjetische Republik in den Fokus rückt. Dem offiziellen Geschichtsnarrativ zufolge hatte die Oktoberrevolution die Armenier gerettet: Zwar durften die ethnischen Säuberungen vom Jahr 1915 in der Sowjetunion bis Mitte der sechziger Jahre offiziell nicht als „Genozid“ bezeichnet werden. Dennoch bildete ebendieser Genozid die Grundlage für das armenische Selbstverständnis: Erst dank Lenins Nationalitätenpolitik, so das Narrativ, sei den Armeniern eine Existenz als Nation ermöglicht worden. Lehmann argumentiert, dass dieses Narrativ funktionierte: Armeniern sei es schwer gefallen, Sozialismus und nationale Frage voneinander zu trennen. Selbst offen nationalistische Positionen seien deshalb nicht notwendigerweise dissident gewesen; vielmehr habe es sich lediglich um abweichende Interpretationen davon gehandelt, was innerhalb eines kulturellen Systems wie des sowjetischen aus armenischer Sicht politisch machbar war.
Lehmann folgt in ihrer Dissertation der Chronologie der Ereignisse, wobei sie immer wieder – wie sie schreibt – „Tiefenbohrungen“ vornimmt. Schlüsselmomente ihres Buches sind die unmittelbare Nachkriegszeit mit den Kampagnen der Ždanovščina, andererseits aber auch einer begrenzten gesellschaftlichen Öffnung. Besonders bemerkenswert sind hierbei die Analysen der Konflikte zwischen in der Sowjetunion aufgewachsenen Armeniern und Diasporaarmeniern, die seit Ende des Krieges in ihre angebliche „Heimat“, die Sowjetrepublik Armenien, „repatriiert“ wurden. Während ein Fokus der Arbeit auf den Jahren 1945–1956 liegt, erfährt der Leser wenig über die Jahre 1957 bis 1964; ein nächster Schlüsselmoment sind für Lehmann erst die Demonstrationen in Erevan 1965, als Tausende Menschen forderten, den Genozid vom Jahr 1915 offiziell als solchen anzuerkennen. Für die siebziger Jahre präsentiert Lehmann Quellenfunde, anhand derer sie belegt, wie konfliktträchtig die Karabach- und Nachičevan-Fragen nicht nur im Parteiapparat, sondern auch im Alltag blieben. Die Feindseligkeiten zwischen Armeniern und Aserbaidschanern, die sich etwa bei einem Lynchmord im Jahr 1967 offenbarten, bilden die Vorgeschichte für die interethnische Gewalt Ende der achtziger Jahre, der die letzte „Tiefenbohrung“ des Buches gewidmet ist.
Die Autorin ist eine hervorragende Kennerin sowohl der neuesten Forschung zum Stalinismus als auch der Arbeiten zur Nachkriegszeit. Eine besondere Leistung ist dabei, dass Lehmann nicht nur einen Zeitraum betrachtet, sondern Entwicklungen bis in die Gegenwart aufzeigt. Gerade die Analyse der sowjetischen Geschichte aus der Gegenwart heraus erweist sich für ihre Argumentation als besonders fruchtbar: Lehmann kann zeigen, dass bestimmte Argumentationslogiken und Narrative nicht nur in Parteiakten auftauchen, sondern auch 15 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion noch in Oral-History-Interviews wiederzufinden sind. Das Fortbestehen von Versatzstücken autoritativer Diskurse belegt laut Lehmann, dass für viele Menschen der Sozialismus nicht nur „Lippenbekenntnis“ und „Maske“, sondern ein zentraler Bestandteil ihrer hybriden Identität gewesen sei. Dieser Bestandteil ihrer Identität sei deshalb auch nicht einfach verschwunden, als die Sowjetunion zerfiel. Der sowjetische Staat erschuf also nicht nur Nationen. Er erschuf sowjetische Nationen, die nicht einfach losgelöst von sozialistischen Inhalten zu denken seien.
Damit weist Lehmanns Studie über die bisherige Forschung hinaus: So hatte zwar bereits unter anderen Ronald Grigor Suny in seinen Arbeiten über Armenien betont, dass innerhalb der Sowjetunion Nationen nicht etwa „zerstört“, sondern „erschaffen“ worden seien. Es habe also einen „offiziellen Nationalismus“ gegeben, den der Staat nicht nur erlaubt, sondern aktiv gefördert habe. Gleichzeitig habe es jedoch in Armenien spätestens seit Mitte der sechziger Jahre auch einen „dissidentischen Nationalismus“ gegeben, dessen Vertreter die Staatsideologie grundsätzlich abgelehnt hätten. Lehmann argumentiert hingegen, dass zwar eine Form des „offiziell sanktionierten Nationalismus“ existiert habe. Dieser habe „wie selbstverständlich die sowjetische Realpolitik uminterpretiert“ und sei „über die Grenzen des Zulässigen, wie sie etwa durch die Verfassung und die Politik des Moskauer ZK abgesteckt waren“, hinausgegangen (S. 73). Dieser Nationalismus sei jedoch nicht oppositionell oder gar dissident geworden. Sozialismus und Nation seien hier nicht mehr als Gegensatzpaare, sondern als eine hybride, nie gänzlich konfliktfreie Verbindung zu betrachten.
So fein Lehmann die Linie zwischen einer „Uminterpretation“ der sowjetischen Realpolitik und „Opposition“ oder gar „Dissidenz“ herausarbeitet, schließen sich daran doch auch Fragen an: Wenn etwas über die Grenzen der Verfassung und der Politik Moskaus hinausging, was spricht dann dagegen, von „Opposition“ zu sprechen? Warum sollten wir davon ausgehen, dass diese Abweichungen unbewusst geschahen oder in Moskau nicht als Opposition wahrgenommen wurden? Was bedeutete es in diesem Zusammenhang eigentlich, „anders zu denken“? Wo liegen die Grenzen zwischen einer „Uminterpretationen“ und Dissens? Lässt sich das Konzept der Hybridität möglicherweise sogar auf die Dissidenten übertragen, die oft ebenfalls den Sozialismus nicht grundsätzlich ablehnten, sondern ihn ebenfalls lediglich anders interpretierten?
Doch gerade weil Lehmann einfache Antworten auf diese Fragen scheut, lohnt sich die Lektüre am Ende. Denn bei dem Buch handelt es sich nicht nur um einen willkommenen Beitrag zur Debatte über die sowjetische Nationalitätenpolitik. Vielmehr verweist Lehmanns Studie auf das komplexe Verhältnis der Bürger zu einem Staat, der für sich beanspruchte, eine allgemeingültige Ideologie zu vertreten, dessen Bürger jedoch zunehmend das Recht einforderten, eine eigene Interpretation ebendieser Ideologie zu leisten. Nation und Sozialismus wurden dabei in Armenien, anders als in der bisherigen Forschung, nie getrennt gedacht. In dieser Hinsicht war Armenien eben durchaus eine durch und durch sowjetische Nation und ist es in mancherlei Hinsicht bis heute geblieben.
Zitierweise: Moritz Florin über: Maike Lehmann: Eine sowjetische Nation. Nationale Sozialismusinterpretationen in Armenien seit 1945. Frankfurt a.M., New York: Campus, 2012. 442 S., 21 Abb. = Eigene und fremde Welten, 26. ISBN: 978-3-593-39492-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Florin_Lehmann_Eine_sowjetische_Nation.html (Datum des Seitenbesuchs)
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