Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 1 (2011), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: David Feest

 

Estonia 1940–1945: Reports of the Estonian International Commission for the Investigation of Cri­mes Against Humanity. Ed. by T. Hiio, M. Maripuu, I. Paavle, Tallinn: Inimsusevastaste Kuritegu­de Uurimise Eesti Sihtasutus, 2006. XXX, 1337 S., 10 Ktn., ISBN: 9949-13-040-9.

Estonia since 1944: Reports of the Estonian International Commission for the Investigation of Cri­mes Against Humanity. Ed. by T. Hiio, M. Maripuu, I. Paavle, Tallinn: Inimsusevastaste Kuritegu­de Uurimise Eesti Sihtasutus, 2009. 718 S., 2 Ktn., ISBN: 978-9949-18-300-5.

Im Jahr 1999 rief der damalige Präsident Estlands Lennart Meri eine Kommission ins Leben, wel­che die Verbrechen gegen die Menschlichkeit untersuchen sollte, die in den Jahren 1940 bis etwa 1956 unter dem sowjetischen und dem deutschen Besatzungsregime begangen wurden. Mit der un­mittelbaren Forschungsarbeit wurden zwei Gruppen unter der Leitung des Historikers Toomas Hiio betraut, die in estnischen, deutschen, russischen, israelischen und US-amerikanischen Archiven Ma­terial gesammelt und die einschlägige Forschungsliteratur gesichtet haben. Entstanden sind zwei Bände, die schon allein durch ihre wuchtige Aufmachung in kunstledernem Einband und mit einem Umfang von insgesamt etwa 1700 Seiten einen Anspruch zu verdeutlichen scheinen: Sie sollen das neue verbindliche Standardwerk zur Geschichte von Terror und Gewalt in Estland darstellen, das tendenziöser Geschichtspublizistik ein gründliches Quellenstudium entgegensetzt.

Und in der Tat: Die Akribie, mit der hier Fakten und Daten zusammengetragen wurden, ist be­merkenswert. In minutiöser Kleinarbeit haben die Forschungsgruppen alle Einrichtungen, Namen, Zahlen und Daten rekonstruiert, die für das Verständnis der sowjetischen und nationalsozialistisch­en Besatzungspolitik unerlässlich sind. In fünf Teilen wird im ersten Band der Zeitraum von der Er­zwingung sowjetischer Militärbasen im Jahr 1939 über die Inkorporation Estlands in die Sowjet­unio­n, bis hin zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion, zum Kriegsgeschehen und zu der deut­schen Besatzung dargestellt. Der zweite Band schildert in fünf Teilen die Zeit nach der Wieder­eroberung des Landes durch die Sowjetunion, die Sowjetisierung von Wirtschaft und Verwaltung sowie ausführlich den sowjetischen Repressionsapparat bis 1956. Dabei ist deutlich das Ziel zu spü­ren, nüchterne Fakten für sich sprechen zu lassen. Gerade weil es hier um so emotionale Themen wie Massenterror und Kollaboration geht, halten sich die Autoren mit allgemeinen Urteilen und übergreifenden Erklärungsmodellen zurück und liefern eine außerordentlich quellennahe Wiederga­be der grundlegenden Strukturen und Ereignisse. Diese Vorgehensweise ist für ein Handbuch grund­sätzlich nachvollziehbar. In seiner Funktion, schnell und zuverlässig über die mitunter sehr komplexen formalen Entscheidungsstrukturen und organisatorischen Besonderheiten der behandel­ten Institutionen zu informieren, sowie das schiere Ausmaß des in Estland ausgeübten Terrors zu quantifizieren, kann dieses mit einem biografischen Anhang und einem Personen- und Ortsregister sowie einer Reihe von Karten versehene Sammelwerk voll befriedigen. Es wird noch auf Jahre hin­aus das zentrale Referenzwerk für jede Arbeit über die estnische Geschichte jener Jahre bleiben.

Die enge Fragestellung der Kommission nach institutioneller und individueller Verantwortlich­keit für die Gewalttaten mag jedoch ein Grund dafür sein, dass einige andere Funktionen, die ein Handbuch dieses Umfangs erfüllen könnte, offenbar nicht in Erwägung gezogen wurden. So gibt es zwar in jedem Band ein ausführliches Literaturverzeichnis, doch findet eine Auseinandersetzung mit dem aktuellen Forschungsstand nur in Ausnahmefällen, etwa in Olev Liiviks Beitrag über die „Estnische Affäre“, statt. Auch explizite Quellenkritik, wie Meelis Maripuu sie in seinem ausgewo­genen Beitrag über die Ermordung tschechischer und deutscher Juden in Estland 1942–1943 vor­nimmt, ist eine Seltenheit. Darüber hinaus bleibt eine Auseinandersetzung mit kontroversen Grund­begriffen fast völlig aus: Termini wie „Sowjetisierung“ oder „Widerstand“ werden nicht näher problematisiert, der Begriff „Kollaboration“ wird, wo möglich, vermieden.

Ebenso der speziellen Fragestellung der Kommission geschuldet ist eine gewisse Verengung des Fokus der rund hundert Einzelbeiträge auf Institutionen und formale Unterstellungsverhältnisse. Die Darstellungen der Sowjetisierung von Wirtschaft und Landwirtschaft, von Peeter Kaasik und Too­mas Hiio für die Vorkriegszeit und Indrek Paavle für die Nachkriegszeit, sind überwiegend aus nor­mativem Material gearbeitet, das nur wenig Auskunft über die erheblichen Schwierigkeiten bei ih­rer Implementierung gibt. Ähnliches gilt für viele andere Beiträge, etwa Paavles Aufsatz über die estnische Selbstverwaltung unter deutscher Besatzungsherrschaft, der zwar einen konzisen Über­blick über die mannigfaltigen Einrichtungen und Funktionsträger gibt, die chaotischen Realitäten im „Land der tausend Herrscher“ (Oskar Angelus) aber kaum anschaulich macht. Analog bietet Argo Kuusiks Beitrag über den „Selbstschutz“ zwar präzise Informationen darüber, wie diese aus Partisanen entstandenen antikommunistischen Einheiten in den Polizeiapparat der Besatzungsmacht integriert und welche Funktionen ihnen zugewiesen wurden. Nicht weniger wichtig aber wäre es gewesen zu zeigen, wie das enge Milieu, in dem diese Einheiten entstanden, ihre Jagd auf Kommunisten nicht selten zu Rachefeldzügen werden ließen, in dem neben politischen Zielen auch persönliche Motive, Willkür und lokale Zwiste eine wichtige Rolle spielten. Zur Illustration der komplexen Motivlage hätte auch auf das Phänomen der „doppelten Kollaboration“ hingewiesen werden können, wenn sich Kollaborateure der Sowjetmacht der deutschen Besatzungsmacht andienten. Dass etwa der in den entsprechenden Abschnitten mehrfach genannte Chef der Estnischen Sicherheitspolizei, Ain-Ervin Mere, bereits im Oktober 1940 vom NKVD rekrutiert worden war, hat der Historiker Indrek Jürjo bereits 1996 gezeigt. Den Autoren des Handbuchs ist dies offenbar entgangen, denn über Mere fehlt auch ein Eintrag im biographischen Anhang.

Zuletzt wird die Stärke der Einzeldarstellungen, die Themen eng und quellennah zu behandeln, mitunter zu einer Schwäche, wenn der Gegenstand damit nachgerade entkontextualisiert wird. So erweist es sich als problematisch, dass einige Themenbereiche sehr streng nach einzelnen Institutio­nen abgearbeitet werden, ohne dass immer gezeigt würde, wie sie sich zu einem System zusammen­fügten. Hier hätten knappe thematische Zusammenfassungen erheblich zur Übersichtlichkeit beitra­gen können. Ebenso gibt es Eigenarten der deutschen Besatzungspolitik in Estland, die sich erst im Vergleich mit der sonstigen deutschen Besatzungspraxis als Besonderheiten erweisen – etwa die formale Trennung der estnischen von der deutschen Sicherheitspolizei. Auch über die breiteren Zielvorstellungen der Besatzungsmächte, wie die in der sowjetischen Politik wirksamen Ideologien oder die deutsche Rassenpolitik und der „Generalplan Ost“, wären kurze zusammenfassende Erläu­terungen angebracht gewesen.

Dennoch gelingt es zumeist, über mehrere Beiträge hinweg ein schlüssiges Bild zu zeichnen. Während die Kapitel über die Sowjetisierung von Bildung und Presse in dem Band über die Nach­kriegszeit keine Fortsetzung finden, ergeben die Kernkapitel über die sowjetischen Repressionen ein konsistentes Ganzes. Die Abschnitte über den Terror 1940/41 und 1944–49 machen sein Aus­maß ebenso hinsichtlich der Opfer wie auch der involvierten Tätergruppen deutlich. Gerade die Verbindung der Ereignisgeschichte dieser Jahre mit einer exakten Institutionengeschichte der betei­ligten Organe, von der Kommunistischen Partei und dem Innenministerium über die Geheimpolizei bis hin zu den Gerichtsorganen und anderen beteiligten Einrichtungen, beschreibt umfassend Charakter und Funktionsweisen des staatlichen Terrors.

Doch taucht die betroffene Bevölkerung nicht nur als Opfer und Objekt staatlicher Politik auf. Für die deutsche Okkupationszeit behandelt Kuusik ihre Haltungen und Meinungen auf der Grundlage von Berichten der Sicherheitspolizei, während Hiljar Tammela die estnische Sicht auf die Außenpo­litik in den Jahren 1944–1950 anhand entsprechender Informationen der unteren kommunistischen Parteiorgane darstellt. Eine viel wichtigere Rolle aber nimmt in dem Sammelband sowohl der aktive Widerstand gegen die Besatzungsmächte als auch die Zusammenarbeit mit ihnen ein. Dabei liegt der Schwerpunkt auf bewaffneten Handlungen. Auch der Widerstand wird gerade für die Nach­kriegszeit vornehmlich in Verbindung mit unmittelbaren Kampfhandlungen (Kaasik, Mika Raud­vassar) sowie den sowjetischen Versuchen, dagegen vorzugehen (Pearu Kuusk), behandelt, während andere Formen des Widerstands nur wenig Aufmerksamkeit finden (Kaasik im ersten Band). Ent­sprechend sind auch Formen der zivilen Kollaboration nur von geringem Interesse, wohingegen die Beteiligung von Esten in Armeeverbänden einen großen Raum einnimmt. Sie erscheint wie ein Knäuel, das entwirrt werden muss, denn Formen und Motive konnten sehr unterschiedlich sein. So wird in allen Einzelheiten dargestellt, wie die alte estnische Armee aufgelöst und in das 22. Territo­riale Schützenkorps verwandelt wurde, wobei sich ein großer Teil der Soldaten ab September 1941 unter unmenschlichen Bedingungen in vom NKVD geleiteten sogenannten „Arbeitsbataillonen“ wiederfand, während nicht weniger als 224 Offiziere nach Sibirien deportiert wurden. Es ist kein Wunder, dass viele Soldaten des Korps später desertieren sollten. Schließlich wurden Teile des Korps in das Estnische Schützenkorps der Roten Armee integriert, das Tallinn eroberte. Doch auch die Beteiligung auf deutscher Seite geschah keineswegs immer freiwillig. Minutiös wird von Hiio und Kaasik die Geschichte der Rekrutierung in die Estnische SS-Legion erzählt, der größere Mobilisati­onserfolge bis 1945 versagt blieben und in die am Ende auch andere bewaffnete Einheiten eingegliedert wurden. An dieser Stelle wird auch die Frage nach der Beteiligung an Kriegsverbrechen gestellt, die sich nun gegen die Esten richtet. Allerdings ist hier eine gewisse Uneinheitlichkeit festzustellen. Während die Autoren des Einzelbeitrags darauf hinweisen, dass die estnische Legion sowie estnische SS-Brigaden und -Divsionen an der Front gekämpft, nicht aber Aufgaben der Sicherheitspolizei erfüllt hätten (Bd. 1, S. 950), kommt die Kommission selbst auf Grundlage des gleichen Materials zu dem Schluss, sowohl Mitglieder der Legion als auch eine Reihe von Polizeibataillonen seien in Weißrussland und Polen an Verbrechen an (meist jüdischen) Zivilisten beteiligt gewesen. (Bd. 1, S. 18). Kleine Inkonsistenzen zu den Einzelbeiträgen finden sich auch bei anderen Urteilen der Kommission, die etwa auch den „Selbstschutz“ viel kritischer beurteilt als die Autoren der entsprechenden Aufsätze. Dennoch, und darüber herrscht Einigkeit, musste auch hier die Mitgliedschaft in der Organisation allein kein Indikator für eine unmittelbare Involvierung in Verbrechen sein. Darin unterschieden sie sich in den Augen der Kommission fundamental von der Arbeit der Sicherheitspolizei und besonders von der für politische Verbrechen zuständigen Abteilung B IV, deren Mitglieder pauschal als verbrecherisch eingestuft werden.

Die in den beiden Bänden versammelten Forschungsarbeiten, so zeigen die zuletzt genannten Überlegungen nochmals, wurden für einen bestimmten Zweck verfasst: die Feststellung der Urhe­ber von Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Estland. Dies erklärt die Art ihrer Durchführung, ihren thematischen Fokus ebenso wie die Unterschiede, die dieses Werk zu anderen Handbüchern aufweisen mag. Insgesamt aber sind die beiden Bände eine unschätzbare Bereicherung für die histo­rische Forschung.

David Feest, Göttingen

Zitierweise: David Feest über: Estonia 1940–1945: Reports of the Estonian International Commission for the Investigation of Crimes Against Humanity. Ed. by T. Hiio, M. Maripuu, I. Paavle, Tallinn: Inimsusevastaste Kuritegude Uurimise Eesti Sihtasutus, 2006. XXX, ISBN: 9949-13-040-9; Estonia since 1944: Reports of the Estonian International Commission for the Investigation of Crimes Against Humanity. Ed. by T. Hiio, M. Maripuu, I. Paavle, Tallinn: Inimsusevastaste Kuritegude Uurimise Eesti Sihtasutus, 2009, ISBN: 978-9949-18-300-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Feest_SR_Estonia.html (Datum des Seitenbesuchs)

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