Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  3 (2013), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Kristina Exner-Carl

 

Dittmar Dahlmann / Anke Hilbrenner / Britta Lenz (Hrsg.): Überall ist der Ball rund. Zur Geschichte und Gegenwart des Fußballs in Ost- und Südosteuropa – Nachspielzeit. Essen: Klartext, 2011. 456 S., 30 Abb. ISBN: 978-3-8375-0297-8.

Inhaltsverzeichnis:

http://d-nb.info/1009497847/04  

 

Fußball ist mehr als nur ein Spiel, Fußball ist unmittelbar mit Politik, Wirtschaft, positiv gelebter Fankultur, aber auch mit immer wieder eskalierenden Gewaltszenen verbunden. Das wurde erneut bei der Fußball-Europameisterschaft im Juni/Juli 2012 deutlich, die von der UEFAsicherlich mit dem erhofften Ziel der Annäherung beider Staaten an Europaim Jahr 2007 erstmalig an Polen und die Ukraine vergeben worden war.

Gehörte noch vor wenigen Jahren die wissenschaftliche Aufarbeitung sporthistorischer und -politischer Fragestellungen, insbesondere die Erforschung des Fußballs, zu den Nischenthemen in der allgemeinen Geschichtswissenschaft, so haben sich diese Themenfelder mittlerweile zu einem viel beachteten Teil der modernen Sozial- und Kulturgeschichte, auch innerhalb der Osteuropa- und Südosteuropaforschung, herauskristallisiert. Symptomatisch für diese Entwicklung kann hier das von 2009 bis 2012 auf drei Jahre angelegte und an der Abteilung für Osteuropäische Geschichte des Instituts für Geschichtswissenschaft der Universität Bonn beheimatete DFG-geförderte Netzwerk-ProjektIntegration und Desintegration: Sozial- und Kulturgeschichte des osteuropäischen Sports im internationalen Vergleichangeführt werden. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang auch die von Studierenden, Promovierenden und wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Osteuropa-Instituts der Freien Universität Berlin anlässlich der Fußball-Europameisterschaften 2012 initiierten vier Projekttage im Juni 2012 mit dem TitelFußball und Debatte: EURO 2012 Polen-Ukraine: Die Welt zu Gast im Knast?.

Rechtzeitig im Vorfeld der Fußball-Europameisterschaften ist der dritte Band (Nachspielzeit) der als Trilogie geplanten Darstellung der Geschichte und Gegenwart des Fußballs in Ost- und Südosteuropa erschienen, der erneut von den Bonner Osteuropahistorikerinnen und ‑historikern Dittmar Dahlmann, Anke Hilbrenner und Britta Lenz herausgegeben worden ist.

Im Vergleich zu den ersten beiden Bänden hat sich der Herausgeberkreis im finalen Band dazu entschieden, die Aufsätze nicht nach Ländern, sondern nach sechs Hauptthemen zu ordnen, die sich vorwiegend mit der Nachkriegszeit ab 1945 befassen.

Einen zentralen Themenschwerpunkt bildet die Politikgeschichte des Sports: Marsil Farkhshatov (Fußball im sowjetischen Baschkirien), Eva-Maria Auch (Fußballgeschichte in Aserbaidschan) und Dittmar Dahlmann (Fußball-Sport und Herrschaft in der DDR) gehen der Frage nach, ob und wenn ja, wie konkret politische Einflussnahme auf den Sport, d. h. Sowjetisierung des Sports, in den autoritären Systemen des sowjetischen Machtbereichs funktionierte. Dabei kann vor allem Dittmar Dahlmann in seinem Beitrag konstatieren, dassder Fußballsport in der DDR, trotz aller Bemühungen von Partei und Sportfunktionären, diesen in die sozialistischen Strukturen einzupassen, ein spezifisches Eigenleben führte und sich gegen alle Widerstände zu einem Profisport entwickelnkonnte.

Mit dem zweiten Hauptthema des BandesKulturgeschichte des Politischen am Beispiel der gelenkten Kommunikation in Polen und der Sowjetunionbeschäftigen sich zwei Autoren; sie arbeiten dabei mit den Methoden der sog. Neuen Politikgeschichte. Gregor Feindt untersucht in seiner Fallstudie anhand von drei Fußball-Länderspielen zwischen Polen und der Sowjetunion im Jahre 1957 im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaften von 1958 in Schweden die Rezeption in der polnischen Presse und kommt zu dem Ergebnis, dass diese Länderspiele keineswegs als Beispiel für die immer wieder geprieseneVölkerfreundschaftangesehen werden können, sondern eher als ein emotional höchst aufgeladenes Politikum interpretiert werden müssen. Jörg Ganzenmüller kann in seinem Beitrag anhand der Fußballberichterstattung in der Chruščev-Ära den Entstalinisierungsdiskurs in der Sowjetunion aufzeigen und liefert somit ein prägnantes Beispiel für die Entpolitisierung des sowjetischen Alltages.

Im Rahmen des dritten Themenschwerpunktes befassen sich drei Beiträge mit dem Komplex Migration, Integration und Desintegration. Matthias Winterschladen weist in seiner Abhandlung über die Anfänge des modernen Fußballsports in Orechovo, Zuevo und Nikolskoe nach, dass der Import des Fußballs aus England in das zentralrussische Industriegebiet rund um Moskau deshalb so gut funktionierte, weil dieser Kulturtransfer mit der Entfaltung der Moderne in Form von Industrialisierung, Urbanisierung und damit verbundener Freizeitkultur zusammenfiel. Konstantin Loulos kann in seiner Untersuchung über Fußball im Griechenland der 1920er Jahre darlegen, dass der Fußball vor dem Hintergrund der zeitgleichen Zwangsmigration von rund 1,5 Millionen Griechen aus Kleinasien in mehrfacher Hinsicht als gesellschaftlicher Katalysator wirkte. Anke Hilbrenner konzentriert sich in ihrem Beitrag auf Fußball in der jüdischen Autobiographik am Beispiel der jüdischen Minderheit in Polen in der Zwischenkriegszeit und macht dabei deutlich, dass der Fußball mit seinen Merkmalen Durchsetzungsfähigkeit und Körperlichkeit bei jungen Männern als Ausdruck eines neu verstandenen Judentums im Gegensatz zur jüdischen Tradition von Bildung, Lernen und Lesen eine wichtige Rolle spielte.

Zwei Autoren befassen sich in einer gemeinsamen Untersuchung mit einem weiteren Hauptthema des Bandes, mit Gewalt und Repression am Beispiel der Fußballspiele im GULag und knüpfen damit an Alexander Chertovs Beitrag über die Todesspiele während der Leningrader Blockade im zweiten Band an. Roland Bude und Wladislaw He­de­ler führen eine Vielzahl von Gründen an, warum im Lager Fußball gespielt wurde: als Ventil für das Gefühl, bei der Arbeit missbraucht und ausgebeutet zu werden, daneben auch als Abwechslung und zur Stabilisierung und Aufwertung des Lageralltages.

Im fünften Teil des Bandes befassen sich vier Autoren mit Fallstudien zu einzelnen Vereinen. Hervorzuheben ist hier vor allem die Untersuchung von Stefan Zwicker, der den Fußball in Teplitz-Schönau / Teplice-Sanov im Spannungsfeld gesellschaftlicher Transformation von den Anfängen bis zur Gegenwart untersucht. Diese Studie wird als ein Teil in seine HabilitationsschriftFußball und Nationalitätenkonflikte in den böhmischen Ländern und Oberschlesien 1890–1945. Zur Rolle einer populären Sportart in ethnisch gemischten Gesellschafteneinfließen, die seit 2010 im Rahmen eines von der DFG geförderten Projektes an der Universität Bonn entsteht.

Schließlich beleuchten zwei Autoren im sechsten Themenschwerpunkt die Auswirkungen der politischen und gesellschaftlichen Transformation nach 1989/1991 auf den polnischen und ukrainischen Fußball. Albert Kotowski (Der polnische Fußball zwischen Euphorie und Verzweiflung) und Stefan Wellgraf (Fußball und Oligarchen in der Ukraine) unterstreichen vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der kommunistischen Systeme und des politischen Neuanfangs in diesen beiden Ländern die Auswirkungen des Kapitalismus mit seinen Ausuferungen in Form von Kommerzialisierung und Korruption auf den Fußball.

Gerade hier hätte man sich beim Lesen im Vorfeld der Fußball-Europameisterschaften 2012 mehr Informationen und Interpretationen, z.B. zu den komplexen ThemenFankulturundFremdenfeindlichkeitin Polen und der Ukraine gewünscht.

Insgesamt gelingt es jedoch, durch die Entscheidung für eine Gliederung nach Themenschwerpunkten ein überzeugenderes Gesamtbild zur Geschichte und Gegenwart des Fußballs in Ost- und Südosteuropa zu schaffen als in den ersten beiden Bänden.

Ein Ende der noch zu erforschenden sporthistorischen und sportpolitischen Themen im Rahmen der modernen Sozial- und Kulturgeschichte Ost- und Südosteuropas ist noch lange nicht in Sicht. Inspirieren könnte in dieser Hinsicht die bereits erfolgte Vergabe der Eishockey-Weltmeisterschaften 2014 an Weißrussland und die Vergabe der Basketball-Europameisterschaften 2015 an die Ukraine.

Kristina Exner-Carl, Bordesholm

Zitierweise: Kristina Exner-Carl über: Dittmar Dahlmann / Anke Hilbrenner / Britta Lenz (Hrsg.): Überall ist der Ball rund. Zur Geschichte und Gegenwart des Fußballs in Ost- und Südosteuropa – Nachspielzeit. Essen: Klartext, 2011. 456 S., 30 Abb. ISBN: 978-3-8375-0297-8., http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Exner-Carl_Dahlmann_Ueberall_ist_der_Ball_rund_Nachspielzeit.html (Datum des Seitenbesuchs)

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