Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-revoews 7 (2017), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Lorenz Erren

 

Tatjana Anatolevna Bazarova: Sozdanie „Paradiza“. Sankt-Peterburg i Inger­man­landija v ėpochu Petra Velikogo. Očerki. Sankt-Peterburg: Gjol, 2014. 408 S., zahlr. Abb. und Ktn. ISBN: 978-5-904790-29-5.

Die Planstadt St. Petersburg hat der imperialen Epoche Russlands ihren Namen gegeben. Seit der Oktoberrevolution fasziniert sie Europa durch ihr paradoxes Schicksal, als jüngste Metropole des Kontinents bereits eine unwiederbringliche Vergangenheit zu verkörpern. Keine Weltstadt hat eine größere Zukunft früher hinter sich gebracht, erst recht hat sich keine zu einem imposanteren Gesamtkunstwerk erschaffen.

Die vorliegende Monographie ist der heroischen Entstehungsphase (etwa 1703 bis 1725) gewidmet, von der das heutige Stadtbild keinen verlässlichen Eindruck mehr vermittelt. Abgesehen von einigen Bauten der Peter-und-Pauls-Festung und der Vasilev-Insel (Kollegiengebäude, Menšikov-Palast) sowie dem Verlauf von Kanälen und Hauptverkehrsadern (Nevskij Prospekt) gibt es kaum noch Übereinstimmungen. Der Winterpalast, die Hauptkirchen und Brücken befanden sich zunächst an anderen Stellen als heute, und von vielen zentralen Gebäuden – etwa der Dreifaltigkeitskirche, wo Peter I. mit seinem Hofstaat regulär zur Messe ging, oder von den ersten Versionen des Winterpalastes – sind kaum bessere Abbildungen erhalten als unscharfe Stiche und Tuschezeichnungen.

Umso eifriger sind russische Archäologen, Archivare, Kunstgeschichtler, Bibliographen und Historiker seit dem späten 19. Jahrhundert bemüht, das Bild der Frühzeit originalgetreu zu rekonstruieren. Zu den heute bekannten Stadthistorikern gehört neben Jurij Bespjatych, Marija Nikolaeva, Grigorij Michajlov und Olga Košeleva und anderen auch die Archivarin Tatjana Bazarova, deren umfangreiche, während der letzten fünfzehn Jahre in Sammelbänden und Zeitschriften erschienenen Forschungsarbeiten nun in dieser Monographie zusammengefasst wurden.

Die Beiträge sind in drei Teile gegliedert: Im ersten geht es um die Neva-Mündung und Ingermanland als Schauplatz bzw. als frontnahes Gebiet während des Großen Nordischen Krieges, im zweiten um verschiedene Aspekte des Alltagslebens der werdenden Stadt. Der dritte enthält eine quellenkundliche Übersicht über die frühesten Pläne und Landkarten. Ergänzt wird die Darstellung durch einen Quellenanhang.

Besonders spannend und innovativ liest sich der erste Teil des Buches. Zunächst geht Bazarova auf die Frage ein, wie viele Arbeiter in den ersten Jahren ums Leben kamen. Schon in der europäischen Publizistik des 18. Jahrhunderts kursierten grotesk überhöhte Schätzungen zwischen ein- und dreihunderttausend Toten, denen aber jede empirische Grundlage fehlt. Laut Bazarova sind im ersten Jahrzehnt nicht mehr als 30.000 Menschen an den Bauplatz nach Petersburg entsandt worden, unter denen die Sterblichkeit allerdings höher gewesen sein mag als anderswo (S. 10–11). Im folgenden Abschnitt wird der kriegerische Kontext in Erinnerung gerufen, in dem Petersburg entstand. Bis zum Frieden von Nystad (1721) blieb den Zeitgenossen deutlich bewusst, dass sich die neue russische Hauptstadt auf einem Territorium befand, das völkerrechtlich immer noch zu Schweden gehörte. Die einheimischen Ingermanländer, einschließlich der ethnischen Russen bzw. orthodoxen Christen, wurde von den Truppen Peters I. durchweg als latent feindlich und widerständig wahrgenommen und auch so behandelt – laut Bazarova nicht einmal ohne Grund, da die Einheimischen tatsächlich lange Schweden loyal blieben und schwedischen Truppen und flüchtenden Kriegsgefangenen heimlich Hilfe leisteten.

Der mittlere Teil der Monographie behandelt Fragen des Alltags der Bewohner sowie der Stadtverwaltung: etwa die Anreise des zarischen Hofstaates, diverse Feuersbrünste und den Aufbau der Feuerwehr, die Gründung erster Schulen, die Baugeschichte der Residenz des Vizekanzlers Petr Šafirov, die Besiedlung der „Moskauer Seite“ und den Betrieb von Sägemühlen auf dem Stadtgebiet.

Die Familie des Zaren besuchte den neuen Ort erstmals 1708, doch an eine dauerhafte Übersiedlung konnte erst nach dem Sieg von Poltava (1709) und der Einnahme von Vyborg (1710) gedacht werden. Wenn es irgendwo brannte, so war Zar Peter persönlich zur Stelle, kommandierte die Löscharbeiten, legte bei Arbeiten selbst mit Hand an, und kletterte an gefährliche Stellen (S. 150–151). Der adlige Nachwuchs, der in der Marine und der Verwaltung dienen sollte, wurde zunächst nach Novgorod zu einer dort von Metropolit Iov gegründeten, leidlich gut funktionieren Schule geschickt, die allerdings bald nach seinem Tod geschlossen wurde. Dicht und zusammenhängend rekonstruiert Bazarova die Finanzierung und Organisation des Baus der Residenz von Vizekanzler Petr Šafirov. Diese grenzte direkt an die seines Vorgesetzten, des Kanzlers Gavriil Golovkin und befand sich in unmittelbarer Nähe des Platzes an der Dreifaltigkeitskirche, der in den 1710er Jahren das politische und gesellschaftliche Zentrum darstellte. Da Šafirovs Bautätigkeit für die petrinischen Funktionseliten typisch war und das Haus selbst aber zusammen mit vielen angrenzenden Bauten noch in den 1780er Jahren abgerissen wurde, ist der Historiker auf Untersuchungen wie diese angewiesen, um sich eine richtige Vorstellung von der Topographie des petrinischen Petersburg zu verschaffen.

Der dritte Teil des Buches stellt eine Kurzfassung der sehr gründlichen, schon 2003 bei „Nauka“ erschienenen Quellenkunde zum selben Thema (frühe Karten und Pläne von Petersburg) dar (Bazarova, Tatjana A.: Plany petrovskogo Peterburga. Istočniko­ved­českoe issledovanie. Sankt-Peterburg 2003), so dass sich hier eine genauere Besprechung erübrigt. Leider haben Verlag und Autorin die Neuveröffentlichung nicht zum Anlass genommen, den Leser von seinen geistigen Tantalusqualen zu erlösen: Das Wenige, was er auf den zehnfach verkleinerten Reproduktionen schemenhaft erkennen kann, genügt, um ihn den Ärger darüber doppelt spüren zu lassen, dass er die Zeichnung und die Legende der (auch im Internet nur in schlechter Bildqualität publizierten) Pläne nicht genauer zu sehen bekommt! Eine Publikation der vorgestellten Stadtpläne von Busch, Coyet und Homann im Format moderner Straßenkarten wäre dringend erwünscht und könnte über Andenkenläden und Museumsshops womöglich sogar kostendeckend vertrieben werden.

Insgesamt bleiben Bazarovas Untersuchungen stets in engster Tuchfühlung mit den Quellen, wobei die Zeichnungen und Berichte von Ausländern mit russischen Archivdokumenten kombiniert werden. Die Stärke dieses vorbildlich transparenten und empirischen Ansatzes ist es, dass sich künftige Forscher auf die Ergebnisse fest verlassen können und nicht noch einmal selbst das Archiv aufsuchen müssen. Zugleich liegt hierin auch eine Schwäche: Stellenweise liest sich die Arbeit trocken wie ein kommentiertes Findbuch. Mitunter hätte sich der Leser oder die Leserin auch im zweiten und dritten Teil eine höhere Bereitschaft zur Thesenbildung, ehrgeizigere oder auch andere Fragestellungen gewünscht. Den Rezensenten, den einschlägige Arbeiten von Lavrov und Smiljanskaja (Aleksandr S. Lavrov: Koldovstvo i religija v Rossii. 1700-1740 gg. Moskva 2000; Elena B. Smiljanskaja: Volšebniki, bogochulniki, eretiki. Narodnaja religioznost i „duchovnye prestuplenija“ v Rossii XVIII v. Moskva 2003) tief beeindruckt haben, hätte interessiert, inwieweit es Peter tatsächlich gelungen ist, volkstümliche, altgläubige oder ‚abergläubische‘ Frömmigkeitsformen aus seinem regulären ‚Paradies‘ fernzuhalten oder ‚wegzusäkularisieren‘? Hier bleibt noch Raum für künftige Forschung, von der zu hoffen ist, dass sie ähnlich gründlich und gewissenhaft betrieben wird wie die hier vorgestellte Arbeit von Tatjana Bazarova.

Lorenz Erren, Mainz

Zitierweise: Lorenz Erren über: Tat’jana Anatol’evna Bazarova: Sozdanie „Paradiza“. Sankt-Peterburg i Inger­man­landija v ėpochu Petra Velikogo. Očerki. Sankt-Peterburg: Gjol’, 2014. 408 S., zahlr. Abb. und Ktn. ISBN: 978-5-904790-29-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Erren_Bazarova_Sozdanie_Paradiza.html (Datum des Seitenbesuchs)

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