Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Benno Ennker

 

Olga Velikanova: Popular Perceptions of Soviet Politics in the 1920s. Disenchantment of the Dreamers. Houndmills, Basingstoke, Hampshire: Palgrave Macmillan, 2013. XV, 251 S., 13 Tab., 5 Abb., 1 Graph. ISBN: 978-1-137-03074-0.

Es geht in diesem Band um jene Popularmeinungen zur bolschewistischen Politik, die im Zusammenhang mit den Wellen von „Kriegs-Panik“ 1923 und 1924 sowie 1927 und in Stellungnahmen zum Revolutionsjubiläum des gleichen Jahres entstanden; zudem wird im Spiegel der Bewegung für Bauernbünde die Widerständigkeit zur bolschewistischen Herrschaft erfasst. Diese Forschung handelt von Qualität und Ausmaß von Loyalität oder Ablehnung für das bolschewistische Regime in der Bevölkerung. Das Thema der „Kriegs-Panik“ macht unübersehbar den Schwerpunkt der Darstellung aus.

In ihrer konzeptionellen Einleitung grenzt die Autorin selbstverständlich die von ihr untersuchten „Popularmeinungen“ vom Begriff der „Öffentlichkeit“ ab. Für Erstere sei eine eindeutige Repräsentativität für die jeweilige Gesellschaft kaum festzustellen, da kaum messbar ist, wie verankert gesellschaftliche Stimmungen sind. Es bleibe den Historikern daher für ihre Analyse meist ein eher „impressionistischer Ansatz“. Das erfordert eine besondere Umsicht bei der Behandlung der Quellen, vor allem solcher, die aus Berichten des Geheimdienstes über Bevölkerungsstimmungen bezogen werden. Die Frage, wieweit Bilder von der ‚Stimme des Volkes‘ authentisch sind, kann durch den Vergleich der Aussagen verschiedener unabhängiger Quellengruppen beantwortet werden, erklärt dazu Velikanova.

Für die erste Welle von Kriegs-Panik 1924 gab die Interpretation von zwei internationalen Ereignissen in der sowjetischen Presse Anlass. Dort wurde das Ultimatum von Lord Curzon, das die Einstellung von Propaganda-Aktivitäten durch Repräsentanten des Sowjetstaates in britischen Kolonien verlangte und andernfalls mit dem Abbruch der Handelsbeziehungen drohte, in einer Propaganda-Kampagne als Kriegsdrohung gedeutet. Velikanova stellt diese Reaktion in den Kontext der Erschütterungen in der bolschewistischen Führung, die mit der tödlichen Erkrankung des Staatsgründers und Regierungschefs Vladimir I. Lenins und einem befürchteten Autoritätsverlust einhergingen: Sie befürchtete Unruhen und Rebellion vor allem von Seiten der Bauern. Unter anderem sollte mit der Kampagne gegen die „drohende Intervention“ und für den Zusammenschluss um die Führung der während dieser Zeit sich ausbreitenden Verunsicherung im Verhältnis der Bevölkerung zum Regime begegnet werden.

1923 und 1924 zeigten sich allerdings ungeplante Propaganda-Ergebnisse auf Seiten der Bevölkerung: Statt Mobilisierung von Unterstützung für das bolschewistische Regime breitete sich Kriegsangst in großen Teilen der Bevölkerung aus, die bei den Bauern dazu führte, dass sie Korn horteten und heftige Abneigung gegen den Krieg äußerten, den sie von der Führung des Landes provoziert sahen.

Bei der Untersuchung der Kriegs-Panik von 1927 befasst sich die Autorin zunächst mit dem „Macht-Diskurs“ in diesem Kontext. Anlass für die erneuten Besorgnisse, die in der bolschewistischen Führung kommuniziert wurden, gab der Abbruch der diplomatischen Beziehungen von Seiten Großbritanniens mit Hinweis auf die sowjetische Einmischung in den britischen Bergarbeiter-Streik 1926; hinzu kam die Ermordung des stellvertretenden Botschafters der Sowjetstaates in Warschau durch Mitglieder einer Emigranten-Organisation. Die internationalen Ereignisse wurden in einer noch massiveren Propaganda-Kampagne zu einem Bild zusammengezogen, in dem das Land vor der akuten Gefahr einer ausländischen Invasion stehe. Erneut wurde für den Zusammenschluss der Bevölkerung um die Partei und ihre Führung mobilisiert. Die Maßnahmen, die daraufhin von den Bolševiki ergriffen wurden, richteten sich sämtlich auf die Sicherung der „inneren Front“, Verhaftungswellen und exemplarische Erschießungen von „Monarchisten“ und „Weißgardisten“ im Land, die verstärkte Überwachung der Bevölkerung. Wie schon die ältere Forschung stellt Velikanova erneut fest, dass weder militärische Mobilisierungspläne noch Rüstungsmaßnahmen auf eine reale Vorbereitung auf einen drohenden Krieg hinwiesen. Ja, die internen Äußerungen des Außenministeriums, des Generalstabs oder des Auslands-Geheimdienstes widersprachen zum größten Teil direkt der Propaganda. Wenn Velikanova erklärt: „Es war eher Furcht als kalte Berechnung, die hinter der Politik der Kriegspanik stand“, so bezieht sich diese Furcht kaum auf den äußeren Feind, wohl aber auf die Bauern im Land. Das wird deutlich in dem Zitat aus einer Aussage Stalins: „Können wir im Falle eines feindlichen Angriffs gleichzeitig Krieg führen an der Front gegen die Polen und gegen die mužiks zu Hause, um Korn für die Armee zu erhalten? Nein, das können wir nicht.“ (S. 80)

Wie realistisch diese Einschätzung war, zeigt Velikanova im nachfolgenden Kapitel mit der Darstellung der Bevölkerungseinstellungen zu den 1926 und 127 verbreiteten Gerüchten um einen drohenden Krieg. Statt eines patriotischen Zusammenschlusses um die Regierung zeigen die vielen von ihr angeführten Dokumente, vor allem GPU-Berichte, das Ausmaß anti-sowjetischer Gefühle, die vor allem unter den Bauern verankert waren: Sie sahen die Verantwortung für die Verschlechterung der internationalen Situation vorwiegend bei den Bolševiken, ja sie schienen z.T. sogar bereit, im Kriegsfalle die Waffen gegen diese zu richten. Die Zahl von Armee-Rekrutierungen fiel, die Vermarktung von Korn reduzierte sich um die Hälfte, weil erneut gehortet wurde. Die Geheimdienstberichte wiesen auf verbreitete Hoffnungen in der Bevölkerung auf eine Invasion hin, weil damit das Ende der bolschewistischen Herrschaft verbunden wurde.

Das Thema der Bauern-Bünde fällt als Studie einer konkreten Sozialbewegung aus dem Gesamtthema des Bandes unübersehbar heraus.

Wenn im letzten Kapitel die Einstellungen der Bevölkerung zum zehnjährigen Jubiläum der Oktoberrevolution dargestellt werden, die ähnliche Resultate wie die vorausgehenden Abschnitte aufweisen, wird damit auch die Basis für eine abschließende Bilanzierung gelegt. Nach dieser Untersuchung lehnte ein großer Teil der Bevölkerung die bolschewistische Politik ab, misstraute der Regierung und war auch nicht bereit das Leben zu ihrer Verteidigung zu opfern. Selbst bei Beachtung der Einstellungs-Unterschiede zwischen den Generationen, finden sich nicht zuletzt selbst bei den jüngeren Teilen der Bevölkerung vielfache Zeugnisse für eine Enttäuschung früher gehegter Hoffnungen, die mit dem revolutionären Umsturz von 1917 verbunden waren. Die Legitimation für ihre Herrschaft hatten die Bolševiken in der Bevölkerung weitgehend verloren; sie konnten weder für den sozialistischen Aufbau noch gegenüber einem angeblich drohenden Krieg einen nationalen Konsens herbeiführen. Zwar erklärt Velikanova, dass „Angst vor einer ausländischen Intervention tief in der Mentalität der Bolševiken verankert war“ (S. 50). Doch weist die Analyse ihrer Forschungsergebnisse darauf hin, dass die Paranoia dieser herrschenden Elite weniger auf die Gefahren von außen als auf die von Seiten ihrer eigenen Bevölkerung richtete. So wird verständlich, dass das Jahr 1927 ein Schlüsseljahr für die Entwicklung der bolschewistischen Politik wurde: Als Konsequenz aus den von der politischen Führung sorgfältig aufgenommenen Berichten über die Einstellungen der Bevölkerung wandte sie sich angesichts der akuten ökonomischen und sozialen Krise im Lande abrupt, umfassend und nachhaltig der diktatorischen und terroristischen Herrschaftsweise zu, die den Stalinismus kennzeichnete.

Insofern bietet der Band einen hochinteressanten Einblick in die Subjektgeschichte sowjetischer Herrschaft der zwanziger Jahre, die zugleich die Vorgeschichte des Stalinismus darstellt.

Benno Ennker, Radolfzell

Zitierweise: Benno Ennker über: Olga Velikanova: Popular Perceptions of Soviet Politics in the 1920s. Disenchantment of the Dreamers. Houndmills, Basingstoke, Hampshire: Palgrave Macmillan, 2013. XV, 251 S., 13 Tab., 5 Abb., 1 Graph. ISBN: 978-1-137-03074-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Ennker_Velikanova_Popular_Perceptions.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2016 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Benno Ennker. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.