Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Benno Ennker

 

The Anatomy of Terror. Political Violence under Stalin. Ed. by James Harris. Oxford: Oxford University Press, 2013. X, 333 S., Tab., Graph. ISBN: 978-0-19-965566-3.

Inhaltsverzeichnis:

http://www.oxfordscholarship.com/view/10.1093/acprof:oso/9780199655663.001.0001/acprof-9780199655663

 

In diesem Band versuchen Historiker die Wurzeln des Stalinschen Terrors zu eruieren. Besonders interessieren die sozialen und politischen Bedingungen und die auslösenden Faktoren für den Entschluss zu den brutalen Massenrepressionen. Dabei sollen nicht nur „die neuesten Entwicklungen des Themas präsentiert werden, sondern auch die neueste Entwicklung der Debatte“, wie der Band verspricht.

In sechzehn Beiträgen, die sich auf acht Themen-Aspekte beziehen, wird ein breiter Fächer von Quellen, Methoden und Gesichtswinkeln präsentiert, die in acht „Paarungen“ entsprechender Autoren angeordnet sind.

Ian Lauchlan und James Harris untersuchen, wie im Jahrzehnt nach der Oktoberrevolution die politische Polizei in ihrer Tschekisten-Mentalität und mit ihren Bedrohungs-Analysen Vorbedingungen für die Massenrepressionen schuf. E. Arfon Rees und J. Arch Getty gehen von verschiedenen Aspekten aus der lang debattierten Frage nach: Wie zentral war die Rolle Stalins im Terror? David Hoffman und David Shearer eröffnen ihre jeweilige Perspektive auf die Interpretation des Großen Terrors im Licht der Moderne bzw. als „social engineering“. David Priestland und David Brandenburger erforschen die gegenseitige Beeinflussung von Ideologie und Terror. Paul Hagenloh und Gábor Rittersporn zeigen ihre widerstreitenden Thesen über den Terror im Rahmen der sowjetischen Institutionen und Herrschaftstechnik. Matthew Lenoe und J. Arch Getty betrachten die Bedingungsfaktoren des Terrors, die also den Übergang politischer Gewalt in Massenrepressionen bewirkten oder begünstigten. Wendy Goldman und William Chase erforschen die Erfahrungsseite des Terrors, seine regionalen und lokalen Dynamiken sowie das besondere Problem, Täter und Opfer zu unterscheiden. Stephen Wheatcroft und Melanie Ilič beschließen den Band, indem sie überprüfen, was aus den Statistiken der Massenrepressionen zu erfahren ist.

Es fällt auf, dass – mit Ausnahme G. Rittersporns – sämtliche beteiligte Forscher von Institutionen der angelsächsischen Wissenschaft kommen. Die Beiträge fassen die Forschungsmeinungen der jeweiligen Autoren autoritativ zusammen. Jedoch finden sich unter ihnen kaum Bezüge aufeinander und selten auf die Forschungsdiskussion, die doch für die Studierenden essenziell wären, für die der Band offensichtlich zusammengestellt wurde. Da kann es kaum befriedigen, dass dem Herausgeber James Harris eine summarische Einleitung von acht Seiten genügt, um die Historiographie zum Thema des Bandes nachzuzeichnen, dabei aber die kontinental-europäischen wie die russischen Beiträge fast gänzlich auszublenden.

Darin stellt er fest, die Gründe für den Beginn des Großen Terrors würden nun überwiegend aus den wachsenden Unsicherheiten und Befürchtungen des Regimes infolge der von ihm selbst losgetretenen gesellschaftlichen Konvulsionen, Zerfallserscheinungen und Eliten-Verkrustungen erklärt. Für die Führung habe es so ausgesehen, als wenn sämtliche Krisenerscheinungen von den Feinden des Regimes in einer allgemeinen Verschwörung unter Vorwegnahme der Möglichkeiten eines kommenden Krieges herbeigeführt worden seien. In diese Richtung habe der NKVD-Chef Nikolaj Ežov sich bemüht die Vorstellungen Stalins zu führen. Man wundert sich, wie die paranoiden Konstruktionen in den von Stalin bestellten Geheimdienst-Dossiers mit ihrer abstrusen Logik von Bedrohungsszenarien als reale „Befürchtungen“ der Führung präsentiert werden und wie hier und in einigen Beiträgen – dagegen argumentiert E. A. Rees am deutlichsten – der Führer selbst als Initiator und Lenker des Terrors in den Hintergrund tritt. War der Chef der Bolševiki denn der von anderen Getriebene?

Besonders weit entwickelt diese Vorstellung über die Bedingungen des Großen Terrors A. Getty mit seinem Beitrag Pre-Elction-Fever: The Origins of the 1937 Mass Operations. Die terroristischen Massenoperationen nach „Kontingenten“ begannen mit Befehl 00447 vom 30. Juli 1937. Ihnen fielen rund 1,5 Millionen Menschen zum Opfer, von denen fast genau die Hälfte erschossen wurden. Dieser Befehl, dessen Zielgruppen ehemalige Kulaken, die ihre Deportationsorte verlassen hatten, Kriminelle sowie „andere antisowjetische Elemente“, vor allem die registrierten politischen Gegner seit der Zeit der Revolution, waren, bildete das zentrale Element eines ganzen Bündels von „Massenaktionen“ zwischen August 1937 und November 1938. Den politischen Bedingungen und auslösenden Faktoren ist der Beitrag J. A. Gettys gewidmet.

Seine Hauptthese lautet: Stalin habe seine eigentlich gegen Massen-Operationen ausgerichtete Linie erst unter dem Druck der regionalen Parteiführer geändert, die in den kommenden Wahlen zum Obersten Sowjet fürchteten, von den durch die „Stalin-Verfassung“ erstmals wahlberechtigten „anti-sowjetischen Elementen“ um ihre Macht gebracht zu werden. Um die Situation auf dem Land zu beruhigen, habe er sie zu den Massenerschießungen ermächtigt. Diese Konstellation leitet Getty historisch ab: Stalin entkleidete die Parteiführer in der Provinz während der ersten Hälfte der dreißiger Jahre ihrer „unbegrenzten Macht zu Verhaftungen und Exekutionen“ und zwang sie in ein System, in dem sie um Erlaubnis nachsuchen mussten, um Opponenten zu töten. Dies habe zu tun mit Stalins Wendung zur Gesetzlichkeit und zu einer gewissen Liberalisierung der politischen Linie.

Diesem deutlich verzeichneten Bild Stalins stellt der Autor eine regionale Führerschaft gegenüber, die im Gegensatz zum Generalsekretär schon immer das Interesse an den Massenerschießungen gehabt und diese ihm 1937 gegen seinen Willen abgerungen hätte. Tatsächlich entsprachen vielleicht die Interessen, aber nicht die Machtverhältnisse in der bolschewistischen Herrschaft der so gezeichneten Konstellation. Warum nahm Stalin den regionalen Führer die Vollmachten für Massen-Strafaktionen und stellte sie unter den Vorbehalt des Politbüros bzw. der Generalprokuratur? Der Grund liegt gewiss nicht darin, dass er „liberaler“ war als die regionalen Bolschewiken. Vielmehr war der Terror für ihn das Herzstück seiner politischen Methoden, und dieser musste von einem zentralisierten Machtstaat ausgeübt werden, den die zentralisierten Staatsanwaltschaften und NKVD-Organe sowie seine neue Verfassung und schließlich er selbst verkörperten.

In einer aufschlussreichen Fall-Untersuchung, einem zweiten Beitrag im selben Sammelband, zeigt Getty, wie Stalin bereits 1934/35 und besonders seit Ende 1936 die regionalen Führungs-Cliquen Zug um Zug entmachtete. Nichts anderes mehr als passive und letztlich vergebliche Hinhaltetaktiken waren dem entgegenzusetzen. Von kollektivem Widerstandhandeln aus den Regionen, wie dies Getty suggeriert, konnte nie die Rede sein. Der Autor begründet seine Behauptung von einer „Revolte“ der regionalen Führer gegen die von der „Stalin-Verfassung“ vorgesehenen allgemeinen Wahlen auf dem ZK-Plenum vom Februar/März 1937 mit deren Hinweisen auf die dadurch drohenden „Gefahren“ von „anti-sowjetischen Elementen“. Wie kann man die artige Aufnahme der „Stichworte“, die vorher aus dem engsten Umkreis Stalins (A. Ždanov und E. Jaroslavskij) gegeben wurden, um die Führungen der Provinz für die politische Aufgabe des „Wahlkampfes“ zu aktivieren, als „Revolte“ verstehen? Bereits vor diesem Plenum war der Angriff des Stalinschen Zentrums auf die „Regionalen“ in vollem Gange, Stalin selbst trug ihn im Inhalt seiner Rede mit unverhohlenen Drohungen vor. Und dies geschah unter den Augen einer Vielzahl von NKVD-Chefs, die Ežov aus den Regionen herbeigerufen hatte, um dem demütigenden Schauspiel beizuwohnen. Im ersten Halbjahr 1937 wurde die Entmachtung der regionalen Eliten fortgeführt. Diese waren zu der Zeit längst nicht mehr in der Lage, Stalin etwas aufzuzwingen oder ihm abzutrotzen. Das gilt zumal für Massen-Operationen in der Dimension des Befehls 00447 vom 30. Juli 1937. Tatsächlich war es Stalin selbst, der namens des Politbüros bereits am 3. Juli von den NKVD- und Parteistellen der Regionen schnellste Vorbereitungen für die Massenrepressionen forderte – darunter Personalvorschläge für die Exekutoren in den trojki vor Ort sowie Zahlenangaben für die jeweiligen Verfolgungskategorien. Das historische Szenario Gettys, das er zum wiederholten Male ausmalt, hat nach den vielen empirischen Forschungen, die dazu angestellt worden sind (G. Easter; M. Junge, J. Baberowski, R. Binner; N. Werth; E. A. Rees; O. Chlevnjuk; Vl. Chaustov, L. Samuel’son, A. Vatlin usw. usf.), weniger Grundlagen in der Historiographie als je zuvor. Diese Forschungen ignoriert Getty fast vollständig. Es gibt zu denken, dass er als einzigen Historiker, der seine Thesen teilt, nur Jurij Žukov nennen kann, der sich in Russland mit seinen Publikationen erklärtermaßen darum bemüht, Stalin als „demokratischen Reformer“ zu rehabilitieren und von der Terror-Politik freizusprechen.

Getty führt seine Thesen immer wieder auf den Wortlaut der von ihm zitierten Dokumente zurück. So nimmt er das propagandistische Heraufbeschwören der Gefahren für die bolschewistische Macht angesichts der anstehenden Wahlen als bare Münze, als wenn die Bolschewiki je vorgehabt hätten, freie Wahlen durchzuführen. Bis zum Ende ihres Systems handelten sie vielmehr nach dem Stalinschen Prinzip: „Nicht die Wahlen sind wichtig, sondern, wer die Stimmen zählt.“ Der Wortlaut eines Archiv-Dokuments bedarf immer noch einer quellenkritischen Bewertung und historischen Kontextualisierung, ehe er zu einer geschichtlichen Aussage berechtigt. Diese Binsenweisheit aus dem historischen Proseminar wird von Historikern wie Getty immer wieder ignoriert, die meinen, die Geschichte „aus den Archiv-Dokumenten“ erzählen zu können.

Angesichts der zentralen Bedeutung, die das von Getty behandelte Thema in der Anatomy of Terror hat, trägt die Behandlung des Gesamtthemas in diesem Band schwer daran, dass der Beitrag so weitgehend in die Irre führt. Unter den behandelten Themen des Bandes ist kein einziges den sog. „nationalen Operationen“ gewidmet, die mit 335.000 Opfern fast die Hälfte der gesamten Massenoperationen ausmachten und mit einer Tötungsrate von ca. 75 % der Verhafteten das Höchstmaß an Brutalität aufwiesen. Da erscheint es fraglich, ob in diesem „Reader“ überhaupt die Dimensionen des Stalinschen Terrors durchschritten werden, bevor seine „Anatomie“ unter allerhand interessanten Aspekten interpretiert wird.

Benno Ennker, Tübingen/St. Gallen

Zitierweise: Benno Ennker über: The Anatomy of Terror. Political Violence under Stalin. Ed. by James Harris. Oxford: Oxford University Press, 2013. X, 333 S., Tab., Graph. ISBN: 978-0-19-965566-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Ennker_Harris_The_Anatomy_of_Terror.html (Datum des Seitenbesuchs)

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