Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 1 (2011), 3 Rezensionen online

Verfasst von: Stefan Dyroff

 

Stephanie Zloch: Polnischer Nationalismus. Politik und Gesellschaft zwischen den beiden Weltkriegen. Köln Weimar Wien: Böhlau, 2010. 631 S. = Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, 78. ISBN: 978-3-412-20543-0.

Bei der vorliegenden Monografie handelt es sich um die überarbeitete Fassung einer 2007 an der Humboldt-Universität in Berlin eingereichten Dissertation. Unter „Polnischem Nationalismus“ versteht die Autorin dabei keinesfalls die Gedankenwelt von Roman Dmowskis Nationaldemokraten und anderen rechten politischen Gruppierungen, sondern die Gesamtheit unterschiedlichster Nationsentwürfe. Diesen so verstandenen Nationalismus untersucht Zloch mittels der Analyse von gemeinsamen Kommunikationsebenen und Formen der Vergemeinschaftung. Als Fallbeispiele wählt sie die „Nation in der Politik“ (Selbstverwaltung und Wahlen), die „Nation im Krieg“ (polnisch-sowjetischer Krieg 191920), die „Nation im Fest“ (vor allem 3. Mai und 15. August) und die „Nation in der Schule“ (Aufbau bzw. Umgestaltung des Schulwesens). Ihre Ausführungen sind in drei chronologische Abschnitte (191822/23, 19281935, 19351939) gegliedert, wobei ab dem zweiten Teil die vier Untersuchungsfelder problemorientiert miteinander verflochten werden. Dabei lässt sich eine besondere Fokussierung auf drei Gruppen feststellen, die als selbsternanntes Sprachrohr für große Teile der ländlichen bzw. städtischen Unterschichten bezeichnet werden können: Adel, Klerus und linksliberal orientierte Sozialreformer. In ihren abschließenden Reflexionen konzentriert sie sich auf die Wirkungen des polnischen Nationalismus der Zwischenkriegszeit in folgenden drei Feldern: nationale und soziale Frage, Umgang mit Multiethnizität, Nation und Partizipation.

Zloch zeichnet das Bild einer Gesellschaft, die durch das Nebeneinander von traditioneller Ordnung und reformerischem Schwung geprägt wurde, ohne dass sich eine der beiden Strömungen durchsetzen konnte. Sie vertritt gleichzeitig die These, dass soziale Spannungen Gesellschaft und Politik genauso stark geprägt hätten wie die Multiethnizität. Dies mag für die von ihr untersuchte diskursive Ebene zutreffen. Letztendlich dürfte die von ihr geschilderte Strategie der Ethnisierung in der Praxis aber erfolgreicher als die der sozialen Solidarisierung gewesen sein. Sie weist darauf hin, dass Wahlergebnisse von den meisten Politikern und Soziologen ethnisch gedeutet und analysiert wurden. Die ethnische Zuschreibung „jüdisch“ wurde darüber hinaus in Wahlkämpfen und der politischen Praxis dazu verwendet, politische Gegner zu diskreditieren. Dennoch geht Zloch davon aus, dass soziale Erwartungen nur ungenügend von derartigen nationalen Partizipationsangeboten aufgefangen wurden. Erst weitere Forschungen können hier jedoch klären, ob der Nationsentwurf „Volkspolen“ (Polska ludowa im Sinne einer partizipatorisch gedachten Nation im Gegensatz zur traditionellen Ordnung) mehr als nur eine rhetorische Alternative zum Verständnis Polens als ethnisch definiertem Nationalstaat darstellte. Zum Nachdenken regt auch ihre Interpretation an, dass die Erinnerung an die Grenzkämpfe die polnische Gesellschaft nicht einte, sondern zu einem Kristallisationspunkt für eine gespaltene Gedenkpraxis wurde. Während diese These in Bezug auf die unterschiedlichen Regionen und Ethnien Polens einen Allgemeinplatz der Forschung darstellt, weist Zloch dies auch für die politischen Lager Warschaus nach. Sie folgert daraus, dass selbst die Vorstellung einer Kriegsnation die politisch und sozial gespaltene Gesellschaft nicht in einer gemeinsamen Erinnerungskultur einigen konnte.

Resümierend kann Zlochs Monografie als ein nicht in allen Punkten überzeugendes Experiment einer Neudeutung der polnischen Gesellschaftsgeschichte in der Zwischenkriegszeit bezeichnet werden. Sie bestätigt damit Padraic Kennedys Eindruck [siehe: After the Blank Spots are Filled: Recent Perspectives on Modern Poland, in: Journal of Modern History 79 (März 2007), S. 134161], dass nach dem historiografischen Abarbeiten der weißen Flecken in der Geschichte des neuzeitlichen Polen nun auch unterschiedliche Narrative ausprobiert werden können. Antworten auf die Frage nach Reichweite und Akzeptanz der im Buch rekonstruierten Nationsvorstellungen werden von Zloch dabei nur spärlich gegeben. Dieses ‚Versäumnis‘ beruht jedoch größtenteils auf der in Folge der Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs eingeschränkten Quellenlage. Lobend ist anzumerken, dass die Autorin ein für eine Dissertation ungewöhnlich breites Thema gewählt hat und ihre Arbeit somit nicht nur für Ostmitteleuropahistoriker von Interesse ist. Kritisch beurteilt werden muss jedoch, dass sich die Autorin in ihren Ausführungen fast ausschließlich auf die Interpretation ausgewählter Primärquellen stützt. Neben der behördlichen Überlieferung hat sie vor allem Zeitschriften und Tageszeitungen quellenkritisch ausgewertet. Eine Auseinandersetzung mit den Thesen der zahlreich vorliegenden Überblicksdarstellungen polnischer Historiker zur Geschichte der Zweiten Polnischen Republik findet dagegen kaum statt, wenn man von der von Czesław Brzoza und Andrzej Leon Sowa 2006 vorgelegten „Historia Polski 19181945“ absieht. Gleichfalls verzichtet sie auf einen systematischen Abgleich ihres durch die Auswertung der Warschauer Quellen entstandenen Geschichtsbildes mit der Forschungsliteratur zu weiteren polnischen Städten und Regionen. Die Repräsentativität ihrer Ergebnisse bleibt daher letztendlich unklar. Wahlergebnisse und die stärker patriarchalisch geprägte Struktur der peripheren Regionen lassen vermuten, dass soziale Spannungen dort weit weniger zentral waren als nationale Differenzen, die durch den Anspruch benachbarter Staaten auf diese Gebiete zusätzlich an Gewicht gewannen. Die Konzentration auf Warschau vermittelt aus dieser Sicht ein alternatives Narrativ über die Gesellschaft der Zweiten Polnischen Republik, dessen Tragfähigkeit im Ganzen gesehen jedoch fraglich erscheint. Genau hier sollten weitere Studien ansetzen.

Stefan Dyroff, Bern

Zitierweise: Stefan Dyroff über: Stephanie Zloch Polnischer Nationalismus. Politik und Gesellschaft zwischen den beiden Weltkriegen. Köln Weimar Wien: Böhlau, 2010. = Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, 78. ISBN: 978-3-412-20543-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Dyroff_Zloch_Polnischer_Nationalismus.html (Datum des Seitenbesuchs)

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