Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Franziska Davies

 

Olga N. Senjutkina: Tjurkizm kak istoričeskoe javlenie (na materialych istorii Rossijskoj imperii 1905–1916 gg.). [Turkismus als historisches Phänomen (an Beispiel der Geschichte des Russländischen Reiches, 1905–1916)]. Nižnij Novgorod: Medina, 2007. 518 S. ISBN: 978-5-9756-0022-6.

Die Historikerin Olga Nikolaevna Senjutkina hat es sich in ihrer 2007 erschienenen Monographie zur Aufgabe gemacht, denTurkismusund seine Rolle in der Geschichte des Russischen Reiches zu erhellen. Der Schwerpunkt der Forschung und Darstellung liegt dabei auf der Zeit nach dem Beginn der Revolution von 1905 jener Zeit also, in der sich eine Politisierung des Islam im Petersburger Imperium beobachten lässt, muslimische (vornehmlich tatarische) Eliten politische Partizipationsrechte einforderten und staatliche Akteure mit zunehmender Skepsis auf die muslimischen Bevölkerungsgruppen blickten. Senjutkinas Studie basiert in erster Linie auf russischsprachiger Sekundärliteratur und auf Recherchen in einer Vielzahl von Regionalarchiven sowie in einigen zentralen Archiven in Petersburg und Moskau (RGIA und GARF).

Problematisch an der Studie ist ihr begrifflicher und analytischer Rahmen. Was eigentlich ist unter dem BegriffTurkismuszu verstehen? Inwiefern hilft er, die Geschichte der turksprachigen Bevölkerungsgruppen im Russischen Reich besser zu fassen, deren historische Beziehungen zum Russischen Reich schließlich stark divergierten? Senjutkina sieht ihn als Alternative zu dem Begriff desPanturkismus, den sie als ideologisch aufgeladenen und politisierten Begriff ablehnt. UnterTurkismusversteht sie hingegen sämtliche Entwicklungen in der Geschichte der turksprachigen Völker (S. 8). Eine derart unpräzise Definition nimmt dem Begriff jedes analytische Potenzial und lässt den Leser etwas ratlos zurück, worin nun eigentlich das Erkenntnisinteresse der Untersuchung liegt.

Der sehr weit gefasste Bezugsrahmen schlägt sich auch in der Darstellung nieder: Die Autorin lässt ihre Geschichte bereits in vorislamischer Zeit beginnen, beschreibt die Ausbreitung des Islam unter den Turkvölkern sowie die Begegnung einiger turksprachiger Völker mit dem russischen Staat. Die plakative These, dass wir es hier mit der Begegnung zweier mehr oder minder statischer zivilisatorischer Systeme zu tun hätten, trägt dazu bei, dass dieser relativ umfangreiche erste Teil der Monographie eher oberflächlich und simplifizierend geraten ist.

Den Schwerpunkt der Arbeit bildet aber die Geschichte der politischen Selbstorganisation muslimischer, meist tatarischen Eliten im Zuge der Revolution von 1905. Dabei richtet die Autorin ihr Augenmerk besonders auf die allrussländischen muslimischen Kongresse jener Jahre, auf die Entstehungsgeschichte derIttifakund auf die Aktivitäten der muslimischen Duma-Abgeordneten. Einen gewissen Raum nehmen auch die politischen Schriften der muslimischen Eliten des Russischen Reiches ein.

Die Kongresse versteht die Autorin als Ausdruck einespolitischen Turkismus. Die Forderungen dieser Kongresse zielten allerdings in erster Linie auf Fragen der religiösen Selbstverwaltung und des islamischen Bildungswesens ab. Warum also werden diese Entwicklungen auf einen ethnisch konnotiertenTurkismusreduziert und die Frage nach dem Verhältnis von Konfession und Ethnizität nicht reflektiert?

In der Darstellung der politischen Entwicklung der russischen Muslime drängt sich allzu oft der Eindruck auf, dass die Autorin die Zuschreibungen des imperialen Regimes reproduziert und damit dessen Urteile unreflektiert übernimmt. Intellektuelle und personelle Verbindungen der Muslime aus der Volga-Region, dem Kaukasus und Zentralasien zu anderen muslimischen Regionen und Staaten waren kein reines Hirngespinst der russischen Bürokratie. Besonders der Einfluss von muslimischen Emigranten aus dem Russischen Reich auf die Revolution der Jungtürken im Osmanischen Reich ist hinlänglich bekannt. Ob sich diese Phänomene aber allesamt entweder unterPanturkismusoder unterTurkismussubsumieren lassen, der implizit die Stabilität des Russischen Reiches bedrohte, ist fraglich. Eine differenziertere Untersuchung der politischen Debatten innerhalb der muslimischen Eliten wäre hier hilfreich gewesen.

Die fehlende Analyse führt außerdem dazu, dass der Leser bisweilen den Eindruck gewinnt, eine Kollage aus Archivfunden vor sich zu haben, die sich zwar alle in irgendeiner Weise mit den Muslimen im späten Zarenreich auseinandersetzen, die aber nicht durch ein stringentes Narrativ in einen Zusammenhang gebracht werden.

Olga Senjutina hat in ihrer Monographie eine Vielzahl von Quellen besonders aus den Regionalarchiven identifiziert. Außerdem ist ihr eine detailreiche Darstellung der vielfältigen Formen der politischen Selbstorganisation der Muslime im Russischen Reich nach 1905 gelungen. Allerdings reicht ihre Studie aufgrund ihrer analytischen Unschärfe nicht an die Arbeiten von z. B. Christian Noack, Paul Werth, Diljara Usmanova, Volker Adam oder Michael Kemper heran.

Franziska Davies, München

Zitierweise: Franziska Davies über: Ol’ga N. Senjutkina: Tjurkizm kak istoričeskoe javlenie (na materialych istorii Rossijskoj imperii 1905–1916 gg.). [Turkismus als historisches Phänomen (an Beispiel der Geschichte des Russländischen Reiches, 1905–1916)]. Nižnij Novgorod: Medina, 2007. 518 S. ISBN: 978-5-9756-0022-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Davies_Senjutkina_Tjurkizm_kak_istoriceskoe_javlenie.html (Datum des Seitenbesuchs)

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