Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2011, 1

Verfasst von: Hans-Christian Dahlmann

 

Wechselwirkungen Ost-West. Dissidenz, Opposition und Zivilgesellschaft 1975–1989. Hrsg. von Hans-Joachim Veen, Ulrich Mählert und Peter März. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2007. 213 S. = Europäische Diktaturen und ihre Überwindung. Schriften der Stiftung Ettersberg, 12. ISBN: 978-3-412-23306-8.

„Ich möchte ein wenig provozieren und fragen, wer die größeren Verdienste am Zusammenbruch des Kommunismus hat: die Entspannungs­politik im Westen oder die ostmitteleuropäische Dissidenz? […] Wenn die Entspannungs­politik Hauptakteur dieses politischen Prozesses war, dann sind Tschechen, Polen, Ungarn oder Litauer nur Schüler, die über die gute westliche Demokratie belehrt wurden. Wenn aber die ostmitteleuropäische Dissidenz die größeren Verdienste hat und einige Entspannungspolitiker Fehler begangen haben, dann stehen die Dinge anders.“ (S. 189–190)

So äußerte sich Kazimierz Wóycicki vom Nationalen Erinnerungsinstitut (IPN) bei der Ab­schlussdiskussion des 5. Internationalen Sym­posiums der Stiftung Ettersberg im Jahre 2006. In seinen Worten erscheinen die Fragestellungen und Dissensen des Symposiums wie unter einem Brennglas. Denn durch den ganzen Tagungsband ziehen sich Fragen nach der Wirkung der Entspannungspolitik auf die kommunistischen Regime, nach der Entwicklung von Zivilgesellschaft gegen die spätkommunistischen Systeme, nach den intellektuellen Diskursen der Dissidenten und nach dem Verhältnis westlicher Politiker und Intellektueller zu den Oppositionellen in den ostmitteleuropäischen Län­dern. Eingegrenzt wurden die Analysen auf den Zeitraum von einem Höhepunkt der Entspannung, der Unterzeichnung der KSZE-Schluss­akte von Helsinki 1975, bis zum Systemwechsel 1989/1990.

Konkret befassen sich einzelne Beiträge des Tagungsbandes mit der intellektuellen Formierung der Opposition in den siebziger Jahren in Polen, der Tschechoslowakei, in Ungarn und der DDR sowie mit der Rezeption der oppositionellen Bewegung Ostmitteleuropas in den USA, in Frankreich, Westdeutschland, in den Reihen der Kirchen, durch die außerparlamentarische Opposition (APO) und in der Wissenschaft.

Die Antworten auf die aufgeworfenen Fragen fallen in mehren Abstufungen unterschiedlich aus, und es ist ein Verdienst der Veranstalter, diese Stimmen an einen Ort und dann in einen Band gebracht zu haben. Als Leser muss man die unterschiedlichen und hochinteressanten Beiträge gegen- und nebeneinander lesen, denn eine Zusammenführung gibt es nicht, und in der Abschlussdiskussion fehlt es trotz der Provokationsversuche Wóycickis an einer konfrontativen Diskussion der unterschiedlichen Thesen aus den einzelnen Beiträgen. Die Fragestellungen reichen eben noch für weitere Tagungen.

Bernd Faulenbach formuliert eingangs die These, dass die Entspannungspolitik die entscheidende Wende im Ost-West-Verhältnis in der Nachkriegsepoche herbeiführte, die den Weg nach 1989 ebnete (S. 29). So habe die Entspannungspolitik durch Auflösung eines wichtigen Feindbildes zur Erosion der Systemlegitimierung im Osten beigetragen (S. 26). Der bereits zitierte Wóycicki betont dagegen, dass die polnischen Oppositionellen in der Entspannungspolitik Risiken sahen. Ihre Sorge war es, vom Westen erneut verraten zu werden („Jalta-Komplex“) (S. 49–50). Im Westen setzte man schließlich, wie Faulenbach schildert, eher auf Reformkräfte und auf behutsamen Wandel, da man erneutes Blutvergießen wie 1953, 1956 und 1968 fürchtete (S. 24). Wóycicki hält dem eine Aussage Jacek Kurońs entgegen, den er aus der persönlichen Erinnerung zitiert: „Ich werde sie [die polnischen Machthaber] zwingen, mich in den Knast zu stecken, um diesen Westlern zu zeigen, wie naiv sie sind.“ (S. 50) Dabei sind sich Wóycicki und Faulenbach mit anderen Referenten durchaus einig, dass die Schlussakte von Helsinki der Opposition im Osten Impulse gegeben hat oder diese gar, wie in Ungarn, zum Handeln ermutigt hat (S. 23, 50, 62).

Außerdem enthält der Band vergleichende Informationen über die kommunistischen Länder in der Endphase ihrer Existenz. So heißt es, dass die Dissidenten in Polen eine bürgerliche Demokratie nach westlichem Modell anstrebten, während die DDR-Opposition stark am Sozialismus orientiert war und sich auch vom Westen abgrenzte. In Polen war man pragmatischer, in der DDR stärker von Visionen getrieben, was u. a. daran lag, dass viele oppositionelle Kräfte die DDR verlassen hatten. Und so konnte auch in Ostdeutschland eine Massenbewegung wie die polnische Solidarność gar nicht erst entstehen. Der schwedische Journalist Ri­chard Swartz, der seit Mitte der siebziger Jahre fast ununterbrochen aus Mittel- und Südosteuropa für das „Svenska Dagbladet“ berichtete, vergleicht die verschiedenen Widerstandstraditionen in Ostmitteleuropa miteinander und kommt dann zu dem Schluss, dass fast alle Staaten Ostmitteleuropas einen eigenen Beitrag zur Überwindung des Kommunismus geleistet hätten. Daneben habe es aber auch andere wichtige Faktoren gegeben. Swartz nennt die Entspannungspolitik, den Vatikan und Ronald Reagen und betont die Bedeutung der Mangelwirtschaft. Sein Fazit: Keine der lokalen Oppositionen der osteuropäischen Länder hätte es alleine schaffen können (S. 59).

Hans-Christian Dahlmann, Warschau

Zitierweise: Hans-Christian Dahlmann über: Wechselwirkungen Ost-West. Dissidenz, Opposition und Zivilgesellschaft 1975–1989. Hrsg. von Hans-Joachim Veen, Ulrich Mählert und Peter März. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2007. = Europäische Diktaturen und ihre Überwindung. Schriften der Stiftung Ettersberg, 12. ISBN: 978-3-412-23306-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Dahlmann_Wechselwirkungen_Ost_West.html (Datum des Seitenbesuchs)

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