Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Hans-Christian Dahlmann

 

Andrzej Friszke: Anatomia buntu. Kuroń, Modzelewski i komandosi [Anatomie des Aufstands. Kuroń, Modzelewski und die „Kommandotruppe“ bis zum Jahr 1968]. Kraków: Znak, 2010. 912 S. ISBN: 978-83-240-1305-0.

Mit seiner Studie „Anatomie des Aufstands“ über Jacek Kuroń, Karol Modzelewski und die studentische Rebellion Ende der sechziger Jahre hat der polnische Historiker And­rzej Friszke ein weiteres Standartwerk über die Opposition in der Volksrepublik Polen vorgelegt. Zwar sind die Aktivitäten der Opposition in den sechziger Jahren bereits ausführlich erforscht und beschrieben, jedoch waren die Akten aus den Gerichtsverfahren sowie die des Sicherheitsdienstes (SB) bisher nicht ausgewertet worden. Mehrere Jahre lang hat Friszke, der ein exzellenter Kenner der Geschichte der Opposition zur Zeit der Volksrepublik ist, im Nationalen Erinnerungsinstitut (IPN) zehntausende Seiten durchgearbeitet und nun ein fast 900-seitiges Werk vorgelegt. Bedingt durch die erschlossenen Quellen liegt ein Schwerpunkt der Arbeit auf der Verfolgung der damaligen Dissidenten und auf den Gerichtsprozessen.

Im ersten Kapitel schildert Friszke die Entstehung des ersten politischen Diskussionsclubs Anfang der sechziger Jahre und die Geschichte des Offenen Briefes an die Partei von Kuroń und Modzelewski, in dem die beiden die Parteiführung aus marxistischer Perspektive kritisierten. Im zweiten Kapitel geht es um den Prozess gegen Kuroń und Modzelewski, die für Ihren Brief 1965 zu drei bzw. dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt wurden. Dieser Prozess war, so Friszke, der wichtigste politische Prozess seit 1956 und er hatte weitreichende Konsequenzen. (S. 353) Er war der Ausgangspunkt für das Entstehen einer neuen Opposition, die sich in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre an der Warschauer Universität formierte. Die so genannten „Kommandotruppe“ (koman­dosi) attackierte nun die Herrschaftsweise der Arbeiterpartei, was der Verfasser im dritten und vierten Kapitel darlegt. Eine ihrer führenden Personen war Adam Michnik, und der Höhepunkt der Auseinandersetzungen waren die Ereignisse vom März 1968, als die Studenten auf der Straße offen rebellierten. Die Demonstrationen wurden gewalttätig niedergeschlagen und die führenden Personen der Studentenbewegung verhaftet und vor Gericht gestellt, was Gegenstand der letzten beiden Kapitel ist.

Friszke beschreibt, wie bei den Prozessen die Staatsanwaltschaft Regie führte und wie Innenministerium und Parteiführung Einfluss nahmen. Sowohl für den Prozess gegen Kuroń und Modzelewski als auch für die Prozesse gegen die führenden Köpfe der „Kommandotruppe“ schildert er, wie die Verhafteten bedrängt wurden und wie versucht wurde, sie zum Aussagen zu bewegen. Um an Informationen zu gelangen, wurden fast allen Gefangenen gefälschte Kassiber zugesendet, die so aussahen, als stammten sie von anderen Verhafteten. Einige der Inhaftierten erkannten diese Täuschung nicht und antworteten auf die Kassiber. Manche begannen auch in den Verhören auszusagen, weil sie dem psychischen Druck nicht standhielten, und belasteten ihre Weggefährten. Die Angeklagten erhielten am Ende der Prozesse mehrjährige Haftstrafen. Die Zeit des Gefängnisaufenthaltes wirkte auf die Betroffenen traumatisierend, was für sie bis heute spürbar ist. Besonders dass nicht alle Angeklagten dem Druck des Staatsapparates standhielten, belastet viele von ihnen. Die ehemalige Aktivistin Barbara Toruńczyk schrieb 2008 in einem Brief an Friszke: „Das sind Dinge, die jeder von uns fast durch sein gesamtes Leben mitzieht. Wir verzeihen sie einander nicht und können bis heute nicht darüber sprechen, weil es eine offene Wunde ist […].“ (S. 683)

Das Urteil des Historikers Friszke fällt etwas milder aus als bei Toruńczyk. Er kommt zu dem Befund, dass die allermeisten Angeklagten ihre Redlichkeit bewiesen und sich solidarisch verhalten haben. Dies sei nicht selbstverständlich gewesen, da die Ermittlungsbehörde mit voller Kraft – wenn auch nicht mit körperlicher Gewalt, so doch mit psychischem Druck – in den Gefängnissen gegen die etwas über 20-jährigen vorgegangen sei. (S. 735)

Friszke ist sich bewusst, dass insbesondere die Akten des Sicherheitsdienstes eine besondere Quellenkritik erfordern. Er plädiert daher methodisch dafür, die aus den Akten gewonnen Erkenntnisse in Zeitzeugenbefragungen zu überprüfen, und merkt an, dass erst nach der Lektüre gezielte Fragen gestellt werden könnten (S. 16 – Siehe auch den Beitrag von A. Friszke: Die Dokumentation des SB, in: Joachim-Lelewel-Gespräche des DHI Warschau, Lelewel-Gespräche 3/2011 - Geheimdienstakten als Quelle zeithistorischer Forschung; http://www.perspectivia.net/content/publikationen/lelewel-gespraeche/3-2011/friszke_dokumentation). Allerdings profitiert Friszke davon, dass die Akteure seines Forschungsfeldes damals jung waren und heute fast alle noch leben. Außerdem stand am Anfang seiner Arbeit ein fest umrissener Aktenbestand. Sein Vorschlag zum Umgang mit den Geheimdienstakten ist daher, anders als er suggeriert, nicht verallgemeinerbar, und der methodische Umgang mit diesen Beständen bleibt schwierig.

Friszkes beeindruckende Studie zeigt aber gerade auch, dass die Problematik der Geheimdienstakten nicht nur in ihrem Wahrheitsgehalt liegt, sondern ebenfalls in der historiographischen Schwerpunktsetzung durch die Historiker, die diese Akten verwenden. Es ist sehr verlockend, diese enorm umfangreichen Quellen zu nutzen, aber sie sind aus der Perspektive der Verfolger verfasst, was nicht ohne Auswirkung auf die historische Darstellungen bleiben kann, die auf diesen Quellen beruhen. Friszkes beeindruckendes Werk ist vor allem eine Geschichte der Repressionen gegen die Oppositionellen, was aber nur ein Teilaspekt der Geschichte ist.

Hans-Christian Dahlmann, Hamburg

Zitierweise: Hans-Christian Dahlmann über: JGO_Rezensionen IOS online, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Dahlmann_Friszke_Anatomia_buntu.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2012 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Hans-Christian Dahlmann. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.