Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Hans-Christian Dahlmann

 

Anne Applebaum: Der Eiserne Vorhang. Die Unterdrückung Osteuropas 1944–1956. Aus dem amerikanischen Englisch von Martin Richter. Berlin: Siedler, 2013. 639 S., Abb., 2 Ktn. ISBN: 978-3-8275-0030-4.

In ihrem neuen Buch schildert Anne Applebaum, wie die kommunistischen Parteien in den Satellitenstaaten der Sowjetunion nach 1945 die Macht erlangten und festigten. Die besondere Stärke des Buches liegt darin, dass die Autorin mehrere osteuropäische Staaten vergleichend in den Blick nimmt. In den einzelnen Kapiteln geht es immer wieder um die Volksrepublik Polen, Ungarn und Ostdeutschland. Am Rande werden die So­wjet­union und die Tschechoslowakei abgehandelt. Applebaum erzählt die Geschichte dieser Länder in der stalinistischen Phase sehr packend, und ihr Buch ist zwar nicht voll von Neuheiten, so doch von vielen interessanten Einzelheiten.

Die Autorin schöpft aus einer enormen Fülle an Literatur. Darüber hinaus hat sie in Moskau, Warschau, Berlin und Budapest in Archiven geforscht und in Polen, Deutschland und Ungarn fast 100 Zeitzeugen interviewt. Dies ist schon aus sprachlichen Gründen alles andere als selbstverständlich. In Berlin und Budapest griff die Autorin auf Übersetzer zurück; polnische und russische Quellen erschloss sie eigenständig.

Das Buch ist in zwei Hauptteile gegliedert: Der ersten Teil behandelt die Frühphase des Stalinismus und der zweite den Hochstalinismus. In den einzelnen Kapiteln des ersten Teils geht es um die Stunde Null, die Akteure in den kommunistischen Parteien, um Polizisten und Gewalt, um ethnische Säuberungen, um die Jugend, das Radio, die Politik und die Wirtschaft. Der zweite Teil ist den Systemgegnern, dem Homo Sovieticus, dem sozialistischen Realismus, dem Städtebau, den Kollaborateuren und dem Ende der stalinistischen Phase gewidmet.

Die Erlangung der Macht war für die kommunistischen Parteien in den behandelten Ländern von Anfang an auf Gewalt gestützt. Besonders bedeutsam war dafür, dass die Kommunisten die Sicherheitsorgane kontrollierten. In Ungarn, der Tschechoslowakei oder Ostdeutschland hielten die kommunistischen Parteien 1946 die politische Macht noch nicht allein in den Händen. Aber dafür kontrollierten sie die Geheimpolizeien und hatten somit überproportionalen Einfluss auf die politische Entwicklung (S. 153).

Neben dem Sicherheitsapparat versuchten die Kommunisten die Medien zu beherrschen. Wichtig war dafür der Rundfunk, den sie schnell unter ihre Kontrolle zu bringen versuchten. Etwas mehr Freiheiten gab es zeitweise bei der gedruckten Presse, doch unerwünschte Organe wurden bei der Papierzuteilung klein gehalten.

Interessanterweise beabsichtigten die Funktionäre der kommunistischen Parteien allerdings zunächst, Wahlen abzuhalten. Ja, sie waren sogar fest überzeugt, diese zu gewinnen. Doch recht bald mussten sie einsehen, dass sie keine Mehrheiten erlangen konnten, und gingen folglich dazu über, Wahlergebnisse zu fälschen. Wichtige Wendepunkte waren die ersten Wahlen in Ungarn 1945, die Berliner Kommunalwahlen 1946 sowie das das Referendum 1946 in Polen.

Ein weiterer Einschnitt war das Jahr 1948, in dem die Verbündeten der Sowjetunion alle Versuche aufgaben, Legitimität durch Wahlen zu gewinnen, und die Tolerierung jeder Form von echter Opposition stoppten. Es begann die Phase des Hochstalinismus (S. 303). Applebaum beschreibt in mehreren Kapiteln, wie nun neben der veröffentlichten Meinung auch die Kunst, die Architektur, der Städtebau und überhaupt der Mensch vollkommen auf das politische System ausgerichtet wurden. Die öffentliche Sphäre wurde so gründlich bereinigt, „dass ein Tourist in Warschau, Budapest oder Ost-Berlin [] Anfang der 50er Jahre keine wie auch immer geartete politische Opposition bemerkt hätte.“ (S. 471)

Drückte diese Form der totalen Herrschaft den Gesellschaften der osteuropäischen Länder nachdrücklich ihren Stempel auf? War die totale Propaganda in den Köpfen der Menschen erfolgreich? Applebaum weist dies am Ende ihres Buches in Abgrenzung zu Hannah Arendt zurück. Mit Blick auf die Revolten am 17. Juni 1953 in Ost-Berlin und im Oktober 1956 in Ungarn, sowie auf die Ereignisse in Polen im Herbst 1956 schließt sie ihr Buch und schreibt: Menschen werden nicht so leicht zu totalitären Persönlichkeiten. Sogar wenn sie vom Kult eines Führers oder einer Partei verhext scheinen, kann der Schein täuschen. Und selbst wenn es scheint, als ob sie voll und ganz der absurdesten Propaganda zustimmen, selbst wenn sie bei Aufmärschen mitlaufen, Parolen skandieren und singen, dass die Partei immer recht hat, kann der Bann plötzlich, unerwartet und auf dramatische Weise gebrochen werden.“

Hans-Christian Dahlmann, Hamburg

Zitierweise: Hans-Christian Dahlmann über: Anne Applebaum: Der Eiserne Vorhang. Die Unterdrückung Osteuropas 1944–1956. Aus dem amerikanischen Englisch von Martin Richter. Berlin: Siedler, 2013. 639 S., Abb., 2 Ktn. ISBN: 978-3-8275-0030-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Dahlmann_Applebaum_Der_Eiserne_Vorhang.html (Datum des Seitenbesuchs)

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