Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Roland Cvetkovski, Köln

 

Gesicht statt Maske. Philosophie der Person in Russland. Hrsg. von Nikolaj Plotnikov / Alexander Haardt. Wien, Berlin, Münster: LIT, 2012. 389 S. = Syneidos. Deutsch-russische Studien zur Philosophie und Ideengeschichte, 1. ISBN: 978-3-8258-1331-4.

Inhaltsverzeichnis:

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Der Einzelne hatte in der russischen Kultur scheinbar nie einen besonders guten Leumund. Vom Westen aus betrachtet, schien das Individuum in Russland sogar nur rudimentär ausgebildet zu sein, war es doch in seiner Entwicklungsgeschichte weder den Einflüssen der Reformation ausgesetzt gewesen, die es mit einer weltlichen Eigenverantwortlichkeit ausgestattet hätte, noch hatte es eine institutionelle Objektivation durchlaufen, die es im Westen in größerem Maße durch die Fortführung einer genuinen Traditionslinie erfahren hatte, wie sie das römische Recht bzw. dessen Erneuerung im neuzeitlichen Naturrecht vorgaben. Die totalitäre und geradezu neurotische Aufwertung des Kollektivs im 20. Jahrhundert schien letztgültig die Ansicht zu bekräftigen, dass Individualität in Russland nicht mehr als einen verkümmerten Zweig der Geistes- und der Sozialgeschichte darstellte. Jüngste Forschungen zur autobiografischen Praxis haben indes mit diesen sich hartnäckig haltenden Vorurteilen aufgeräumt.Ichzu sagen, hatte in Russland nicht nur gleichermaßen großes Gewicht und Bedeutung, sondern auch eine spezifische Tradition, wenn sie auch kürzer war und in anderen Zusammenhängen stand als jene im Westen.

Die im vorliegenden Band versammelten, größtenteils bekannten Texte treten nun nochmals diesen einseitigen Bewertungen entgegen und unterstreichen die besondere Wertschätzung, die dem Individuum in Russland ideengeschichtlich zugemessen wurde. Sie kreisen um die Wahrnehmung der Person (lico/lice/ličnost) und deren spezifische Verhandlungen zu unterschiedlichen historischen Bedingungen: Die Diskurse setzten mit der ersten Formierung der Intelligenzija im zweiten Drittel des 19. Jahrhundert ein, nahmen in dessen zweiten Hälfte unverhältnismäßig zu und erfuhren im frühen 20. Jahrhundert eine klassische Hochzeit. Dass es dabei notwendig um ein Abarbeiten an westlichen Modellen bzw. um die Abgrenzung von Europa ging, lag in der Natur der Sache, zumal die Anfänge gerade von der kritischen Auseinandersetzung mit den Subjektphilosophien vor allem Hegels und Fichtes bestimmt waren. Allerdings zeigen die Texte, dass man gut daran tut, die scharfen Trennlinien, die die Zeitgenossen teilweise zwischen West und Ost gezogen haben, nicht mit spitzem Stift nachzuzeichnen, sondern vielmehr die Bezogenheit beider Kulturkreise und deren gegenseitige Bedingtheit in den Vordergrund zu rücken. Die Bindung der Person und der Personalität vor allem an die soziale Frage, wie dies unter anderem bei A. Herzen vorformuliert wurde, ist kein ursprünglich russisches Phänomen, auch wenn es hier später seine besondere revolutionäre Ausprägung erfahren sollte. Auch die unterschiedlichen Versuche etwa von N. Berdjaev, G. Špet, V. Losskij oder S. Frank, die Person im Spannungsfeld zwischen Ich, Subjekt und Gesellschaft insbesondere in ihrer absoluten Individualität zu beschreiben, fußten letzten Endes auf phänomenologischen Prämissen, die um die Jahrhundertwende ideen- und philosophiegeschichtlich eigentlich eine gesamteuropäische Geisteshaltung abbildeten.

Das Besondere allerdings, das sich nun als Leitmotiv aus den meisten Texten dieser kanonischen Autoren herauslesen lässt, liegt in der spezifischen metaphysischen bzw. religionsphilosophischen Ausweitung des Personenkonzepts und gerade in der Verabsolutierung von Individualität. Es ließ damit das zweieinhalb Jahrhunderte gültige Cartesianische Koordinatensystems offenbar hinter sich: Hatte V. Solovev noch am markantesten mit der Formulierung seiner All-Einheitsmetaphysik und der Aufrichtung eines Gottmenschentums den modernen Subjektbegriff demontiert, so zeigte sich, dass für die russische Philosophie allgemein das Subjekt eher als Hinderungsgrund zur Entwicklung einer Person angesehen wurde, da nur in ihr als unempirischem, rein seelischem Prinzip das eigentlich schöpferische Moment angesiedelt war, das sich harten philosophischen Kategorisierungen letztlich entzog.

Vor allem aufschlussreich sind aber sind die Texte der eher weniger bekannten Autoren,  etwa der im späten Zarenreich als Staatsrechtler tätigen B. Kistjakovskij und N. Alekseev. Sie entwickelten erstmals einen für eine breitere Öffentlichkeit greifbaren Begriff der Rechtsperson, der sich gegen die Entwürfe der frühen revolutionären Intelligenzija richtete und dieser implizit vorhielt, in ihren Überlegungen das autonome Rechtssubjekt als unabdingbare Voraussetzung für die legale Ausbildung von Gesellschaft gänzlich vernachlässigt zu haben. Staatliche Garantien für persönliche Freiheit und gerechte Rechtsprechung erhielten so ihre rechtsphilosophische Untermauerung und folgten damit den Spuren der westeuropäischen liberalen Rechtsphilosophie, die die Kommunikation einzelner Teile der Gesellschaft unter ein staatlich geschütztes Regelwerk stellte, wie dies besonders Alekseev herausstrich. Aber auch die abgedruckten Texte der sowjetischen Philosophen M. Mamardašvili und Ė. Ilenkov zeigen jenseits eines kruden und vulgären Marxismus die epistemische Breite an, in der man das Phänomen der Individualität einzufangen versuchte. Obwohl die kommunistische Ideologie hier zweifellos den Denkrahmen vorgab, der die beiden Autoren das individuelle Bewusstsein als Maske der sozialen Bewusstseinsformen bzw. die subjektive Welt als soziale Repräsentation auslegen ließ, wird dennoch auch in diesen Argumentationen ersichtlich, dass das Individuum und seine Individualität selbst unter dem Diktat des Kollektiven nicht aus einer (kritischen) marxistischen Philosophie wegzudenken waren und lediglich einer Umdeutung unterworfen, nicht aber in seiner Besonderheit eliminiert werden konnten.

Die ausführliche und gelungene Einleitung Plotnikovs beabsichtigt, die Texte vor einem philosophisch-begriffsgeschichtlichen Hintergrund fruchtbar zu machen. Dies gelingt vor allem durch die kurzen einführenden Kommentare zu den insgesamt vier Sektionen des Bandes, die sowohl den jeweiligen biografischen Zugriff als auch die geistesgeschichtliche Einordnung der vorgestellten Texte erleichtern. Die hier abgedruckten Artikel, wenn auch überwiegend geläufig, zeigen aber einmal mehr, dass sich in der russischen Kulturgeschichte hinter dem gleichsam in Stein gemeißelten Primat des Kollektiven tatsächlich ein äußerst buntes, schillerndes Spektrum an europäisch geprägten und russisch umgedeuteten Ich-Konzeptionen verstecktohne Reformation und ohne die Tradition des römischen Rechts.

Roland Cvetkovski, Köln

Zitierweise: Roland Cvetkovski, Köln über: Gesicht statt Maske. Philosophie der Person in Russland. Hrsg. von Nikolaj Plotnikov / Alexander Haardt. Wien, Berlin, Münster: LIT, 2012. 389 S. = Syneidos. Deutsch-russische Studien zur Philosophie und Ideengeschichte, 1. ISBN: 978-3-8258-1331-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Cvetkovski_Plotnikov_Gesicht_statt_Maske.html (Datum des Seitenbesuchs)

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