Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2011, 1

Verfasst von: Stefan Creuzberger

 

Boris L. Chavkin Verflechtungen der deutschen und russischen Zeitgeschichte. Aufsätze und Archivfunde zu den Beziehungen Deutschlands und der Sowjetunion von 1917 bis 1991. Ediert von Magnus Edlinger sowie mit einem Vorwort versehen von Leonid Luks. Stuttgart: ibidem-Verlag 2007. 279 S. = Soviet and Post-Soviet Politics and Society, 43. ISBN: 978-3-89821-756-9.

Der russische Historiker und Mitherausgeber der Fachzeitschrift „Novaja i novejšaja istorija“, Boris L. Chavkin, setzt sich in dem vorliegenden Sammelband mit wichtigen Themen der deutsch-sowjetischen Beziehungsgeschichte seit 1917 auseinander. Dabei kann er auf bislang unzugängliche Materialien aus den Archiven des russischen Geheimdienstes FSB, des Innenministeriums und der Armee zurückgreifen. Den Auftakt seiner Aufsatzsammlung bildet ein Beitrag über das Attentat auf den deutschen Botschafter in Moskau, Wilhelm Graf von Mirbach-Harff, am 6. Juli 1918. Chavkin arbeitet dabei minutiös die Rolle des Tscheka-Gründers Feliks Dzeržinskij heraus. Dieser gehörte zu den eigentlichen Drahtziehern des Anschlags. Er unterstützte nachhaltig die Attentatsplanungen der beiden linken Sozialrevolutionäre Jakov Bljumkin und Nikolaj Andreev. Dzeržinskij wollte eine außenpolitische Krise provozieren mit dem Ziel, den Frieden von Brest-Litovsk, der den Bol’ševiki vom Deutschen Reich aufgezwungen worden war, möglichst zu revidieren. Darüber hinaus sollte ihm die Ermordung des deutschen Gesandten einen geeigneten Vorwand liefern, um die linke sozialrevolutionäre Opposition im Lande auszuschalten.

Weitere Aufsätze und Einzeldokumentationen beleuchten das Schicksal des sowjetischen Topagenten Richard Sorge, der 1941 aus Tokio den bevorstehenden deutschen Angriff auf die UdSSR meldete und dennoch bei Stalin damit nicht durchdringen konnte; sie präsentieren neue Quellen über den Kreis der Verschwörer hinter dem Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 und geben Einblicke in die Verhaftung Heinrich Himmlers am 21. Mai 1945 durch zwei ehemalige kriegsgefangene Rotarmisten, die Angehörige einer britischen Militärstreife waren. Chavkin thematisiert das Schicksal deutscher Kriegsgefangener in der Sowjetunion zwischen 1941 und 1955. Er hebt hervor, dass die Zahl der Kriegsgefangenen nur sehr unsystematisch erfasst und schließlich sogar von höchster Stelle manipuliert wurde. So versuchte Außenminister Molotow im März 1947, Stalin davon zu überzeugen, die Anzahl der deutschen Kriegsgefangenen aufgrund der hohen Sterberate um 10 Prozent niedriger auszuweisen.

Überaus interessant liest sich der Aufsatz über den 17. Juni 1953 in der DDR. Chavkin schildert nicht nur die Reaktionen, die dieses Ereignis bei der damaligen sowjetischen Staats- und Parteiführung hervorgerufen hat, sondern gewährt auch wichtige Einblicke in die Moskauer politischen Entscheidungsprozesse. Dabei wird vor allem deutlich, wie die miteinander rivalisierenden Teile der Führungselite der KPdSU den ostdeutschen Volksaufstand im innersowjetischen Machtkampf um Stalins Nachfolge instrumentalisierten. Am Ende dieser Auseinandersetzung stand die politische Entmachtung des berüchtigten Innenministers und langjährigen Geheimdienstchefs Lavrentij Berija, der nach einem Geheimprozess am 23. Dezember 1953 hingerichtet wurde.

Den Abschluss der Aufsatzsammlung bildet ein historiographiegeschichtlicher Beitrag über die geheimen Zusatzprotokolle zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 und über weitere deutsch-sowjetische Geheimabkommen aus den Jahren 1939 bis 1941. Es werden die Ereignisse um die Veröffentlichung der russischsprachigen Texte rekonstruiert, deren Existenz die Kreml’-Führung jahrzehntelang kategorisch geleugnet hat. Selbst Michail Gorbačev, der sich als letzter Generalsekretär der KPdSU im Zeichen von Glasnost’ um eine neue Offenheit bemühte, tat sich schwer, diese diffizile Phase deutsch-sowjetischer Vergangenheit lückenlos offenzulegen. Es blieb schließlich dem russischen Präsidenten Boris Jelzin vorbehalten, am 27. Oktober 1992 die bis dahin als brisant eingestuften sowjetischen Geheimdokumente im Original der Weltöffentlichkeit zu präsentieren.

Boris Chavkin bietet mit seinem Aufsatzband anregende Einsichten in die überwiegend spannungsgeladenen deutsch-sowjetischen Beziehungen des vergangenen Jahrhunderts. Dabei werden manche „weiße Flecken“ in der russischen Historiographie beseitigt, die bislang das Ergebnis von Moskaus restriktiver Archivpolitik gewesen sind. Gleichwohl hätte man sich mehr redaktionelle Sorgfalt bei der deutschen Übersetzung der russischen Textvorlagen gewünscht. Hilfreich wäre es zudem gewesen, dem Aufsatzband eine umfangreichere Einleitung voranzustellen und den im Anhang abgedruckten Dokumenten ein Gesamtverzeichnis mit einem entsprechenden archivalischen Fundstellennachweis voranzustellen. Das gilt auch für alle Einzelbeiträge, die ursprünglich in der Zeitschrift „Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte“ erschienen sind.

Stefan Creuzberger, Potsdam

Zitierweise: Stefan Creuzberger über: Boris L. Chavkin Verflechtungen der deutschen und russischen Zeitgeschichte. Aufsätze und Archivfunde zu den Beziehungen Deutschlands und der Sowjetunion von 1917 bis 1991. Ediert von Magnus Edlinger sowie mit einem Vorwort versehen von Leonid Luks. ibidem-Verlag Stuttgart 2007. = Soviet and Post-Soviet Politics and Society, 43. ISBN: 978-3-89821-756-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Creuzberger_Chavkin_Verflechtungen.html (Datum des Seitenbesuchs)

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