Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2011, 1

Verfasst von: Jana Bürgers

 

Nancy M. Wingfield Flag Wars and Stone Saints. How the Bohemian Lands Became Czech. Cambridge, London: Harvard University Press, 2007. XVIII, 353 S., 35 Abb., 3 Ktn. ISBN: 978-0-674-02582-0.

Für ein Buch zur Nationalismusforschung kommt die Autorin Nancy Wingfield, Historikerin an der Northern Illinois University, mit extrem wenig Theorie aus. Das mag wohl daran liegen, dass sie als ehemalige Mitherausgeberin der „Nationalities Papers“ und diverser Sammelbände und damit als Spezialistin auf diesem Gebiet mit der Materie in einem solchen Maße vertraut ist, dass sie eine eingehende Behandlung nicht mehr für nötig befindet. Wer bei der bloßen Erwähnung von Namen wie Brubaker, Anderson, Renan und Hroch sofort über erfundene Traditionen, kleine Völker sowie den Unterschied von Nationsbildung und Nationalisierung Bescheid weiß, dem mag das genügen. Für alle anderen wären ein paar erklärende Worte sicher hilfreich gewesen, denn Wingfield legt reichlich Material vor, das einer Einordnung bedürfte.

Überaus detailreich und unter Verwendung zahlreicher Akten und Dokumente zeigt sie, wie sich in den böhmischen Ländern zwischen 1880 und 1948 aus verschiedenen sich überlagernden und wandelnden Identitäten von Klasse, Konfession, Imperium oder Region zwei nationale Identitäten, nämlich die deutsche und die tschechische, entwickelten. Ganz bewusst blendet sie die sozialen und ökonomischen Aspekte aus und konzentriert sich ganz auf den kulturellen Bereich einschließlich der Sachkultur. So rücken sogar die weißen Strümpfe der (sudeten)deutschen Tracht und der Boykott tschechischen Biers durch die Deutschen ins Blickfeld.

In neun chronologisch geordneten Kapiteln zeichnet sie anhand verschiedener kultureller Manifestationen nach, wie sich Identitäten herausbildeten und veränderten.

Für die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts beschreibt sie, wie von den Deutschen zunehmend Denkmale für Kaiser Joseph II. errichtet und für ihre nationalen Ziele vereinnahmt wurden. Aus dem Volkskaiser für alle wurde so nach und nach ein Nationalheiliger, der  als Symbol des Deutschtums verstanden wurde. Zu seinen Füßen versammelte man sich zu nationalen Kundgebungen oder man stritt sich mit den Tschechen.

Weniger konkret, aber nicht weniger streitbar waren die Sprachenverordnungen des österreichischen Ministerpräsidenten Badeni von 1887, in denen Tschechisch und Deutsch als gleichberechtigte Sprachen vorgesehen waren. Die Deutschen empfanden die geplante Regelung als antideutsch, da sie im Gegensatz zu den meisten Tschechen nicht zweisprachig waren und folglich Nachteile im Beruf befürchteten. Die Proteste einten an sich getrennte Gruppen von Deutschen zu einer Art „Volksgemeinschaft“, die dann für die deutschen Grenzregionen der Böhmischen Länder den Begriff Sudetenländer verwendete.

Ähnliche Ängste vor Machtverlust waren auf Seiten der Deutschen mit der geplanten Errichtung einer tschechischsprachigen Universität in Brünn 1905 verbunden. Im Zuge des Streits kam es zu blutigen und sogar tödlichen Auseinandersetzungen. Bis zum Ende der Monarchie konnte die deutsche Minderheit in der Stadt das Projekt verhindern.

Wie sich dies bereits 20 Jahre vorher im Falle der Denkmäler für Joseph II. angekündigt hatte, zeigte sich auch bei den beiden Jubiläen von Franz Joseph 1898 und 1908, dass der imperiale Herrscher nicht länger als Bindeglied zwischen Deutschen und Tschechen funktionierte. Zwar feierten Tschechen und Deutsche teilweise gemeinsam die Jahrestage der Thronbesteigung des Habsburgers, doch mehrten sich am Rande die Zeichen von offenem Nationalismus. Zentrifugalen und nationale Kräfte wurden stärker. und der Streit um eine tschechischsprachige Theateraufführung in Wien führte sogar zum tschechischen Boykott der großen Festparade.

Nach der Gründung der Tschechoslowakei 1918 fühlten sich die Deutschen zunehmend an den Rand gedrängt – Denkmäler, Straßennamen und Feiertage wurden an die neuen Verhältnisse angepasst, d.h. tschechisiert. Auch die Geschichte wurde entsprechend neu interpretiert. Teile der noch immer multinationalen Bevölkerung fanden keinen Platz mehr in der nationalen Topographie des neuen tschechischen Nationalstaates.

Auch die nationalen Empfindlichkeiten der Tschechen nahmen zu, was Wingfield eindrücklich am Beispiel des deutschen Tonfilms im Prag der zwanziger Jahre zeigt. Deutschsprachige Musikkomödien wurden zum Anlass für massive Auseinandersetzungen. Verbote deutschsprachiger Filme erhielten bald eine politische Dimension und führten sogar zu internationalen Spannungen.

Als Antwort auf die nationale Konsolidierung der Tschechen entstanden auch auf deutscher Seite mehr und mehr national orientierte Vereinigungen und Verbände, die sich zunehmend zum Deutschen Reich hinwandten und auch vor einer Nazifizierung nicht gefeit waren.

In der Nachkriegstschechoslowakei erfuhren die kulturellen Manifestationen dann abermals eine Um- und Neuinterpretation, diesmal in Übereinstimmung mit der kommunistischen Ideologie. Die gemeinsame Vergangenheit mit den Deutschen wurde aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt, die Deutschen selbst wurden vertrieben und möglichst viele ihrer Spuren vernichtet.

Wingfield schildert sehr anschaulich und ausführlich, wie das Alltagsleben nationalisiert wurde, und es gelingt ihr darzustellen, wie sehr beide Seiten auf die Äußerungen und Provokationen der jeweils anderen Gruppe für ihre eigenen Aktivitäten angewiesen waren. Man forderte sich gegenseitig heraus, antwortete auf den provokativen Gesang der anderen mit eigenen nationalen Liedern, imitierte die nationalen Ausdrucksformen (z.B. Beflaggung, Paraden, Versammlungen). Allerdings betont die Autorin die Konflikte zu stark und informiert kaum über Formen der Zusammenarbeit, über stilles Einvernehmen und Gleichgültigkeit der anderen Volksgruppe gegenüber. Gemischte Ehen werden nur im Rahmen der Vertreibungsproblematik genannt, ab und an ist von Versöhnungsversuchen der Sozialdemokraten die Rede, denen es aber auf lange Sicht nicht gelang, die soziale Zusammengehörigkeit über die nationale siegen zu lassen.

Die große Frage nach dem „Warum“ bleibt leider genauso unbeantwortet wie die nach vergleichbaren Situationen in anderen Grenzregionen. So interessant die Details und so ansprechend ihre Präsentation sind, so bedauerlich ist ihre Kontextlosigkeit, und man muss leider sagen, dass Wingfield ihr selbstgestecktes Ziel – nämlich das Wie und das Warum der Schaffung, Durchsetzung und Rezeption nationaler Mythen und kultureller Ikonen zu klären – nur zur Hälfte erreicht hat.

Jana Bürgers, Offenburg

Zitierweise: Jana Bürgers über: Nancy M. Wingfield Flag Wars and Stone Saints. How the Bohemian Lands Became Czech. Harvard University Press Cambridge, MA, London 2007. XVIII, ISBN: 978-0-674-02582-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Buergers_Wingfield_Flag_Wars.html (Datum des Seitenbesuchs)

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