Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2011, 1

Verfasst von: Jana Bürgers

 

Annette Schuhmann (Hrsg.) Vernetzte Improvisationen. Gesellschaftliche Subsysteme in Ostmitteleuropa und in der DDR. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2008. 255 S. = Zeithistorische Stu­dien, 42. ISBN: 978-3-412-20027-5.

Neben dem Begriff Netzwerk selbst sticht ein weiteres Wort im vorliegenden Buch durchgehend ins Auge: Kompensation. Damit ist bereits ein verbindendes Element für alle zehn Aufsätze genannt. Egal ob in Ungarn oder der DDR, ob in Politik oder Wirtschaft, immer dienten die untersuchten Netzwerke der Kompensation – mal hatten sie „Funktionsdefizite der zentral gelenkten Wirtschaft“ (S. 20), mal Ressourcenknappheit oder fehlendes Klassifizierungsvokabular zu ersetzen.

Doch zuerst sollte spezifiziert werden, was die Herausgeberin Annette Schuhmann, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam, unter Netzwerk eigentlich versteht: Es geht um „Substrukturen der realsozialistischen Gesellschaften“, die informell und nicht institutionalisiert sind. Sie basieren auf dem Vertrauen überwiegend horizontal miteinander agierender Akteure und besitzen eine große Selbstkoordinations- und Anpassungsfähigkeit. Ihre Kehrseite ist die Gefahr, ins Kriminelle abzugleiten, sowie das Unterlaufen ‚offizieller‘ Strukturen. Dieser Präzisierung bedarf es, weil der Netzwerkbegriff als solcher ein sehr weit gefasster ist, der in den verschiedensten Disziplinen Anwendung findet. Die Geschichtswissenschaften nutzen ihn bislang eher am Rande, so dass Schuhmann im Falle der hier versammelten Beiträge von Experimenten unter dem Netzwerkansatz spricht. Entsprechend heterogen sind denn auch die – anscheinend eher willkürlich unter den Begriffen „Forschungsbefunde“ und „Methoden“ subsumierten – Aufsätze.

Peter Heumos eröffnet mit einer Studie zu tschechoslowakischen Industriebetrieben von 1945–1968. Besonders anhand von Löhnen und Prämien beschreibt er Netzwerke, d.h. hier „Planerfüllungspakte“ zwischen Betrieben und Wirtschaftsbürokratie, aber auch innerbetriebliche Beziehungen und die Rolle von Gewerkschaften. Die Anwendung des Netzwerkbegriffes wirkt in seinem Aufsatz etwas gewollt, tatsächlich stehen die Gewerkschaften und ihre Verselbständigung gegenüber Staat und Partei im Vordergrund der Untersuchung. Einen ähnlich künstlichen Gebrauch des Netzwerkbegriffs betreibt Dierk Hoffmann bei seiner Darstellung der „Vereinheitlichung der Sozialversicherung in der SBZ (1945–1949)“. Hier erfährt die Untersuchung keinerlei Gewinn durch den Versuch, eine kleine Gruppe von Akteuren als Netzwerk zu bezeichnen. Sehr klar und aufschlussreich behandelt Andreas Oberender eine Sonderform von Netzwerken, nämlich die Patronage. Am Beispiel der personalen Herrschaft Leonid Brežnevs erarbeitet er Charakteristika dieser asymmetrischen Beziehungen, liefert interessante Fakten und einen vielversprechenden Ausblick. Als misslungen hingegen muss man den Versuch von Heinz Mestrup werten, die Interessengemeinschaft „Territoriale Rationalisierung“ in Jena als Netzwerk zu interpretieren. Außerordentlich detailreich schildert er die Aktivitäten des Werkdirektors W. Biermann in der Interessengemeinschaft, um dann im Fazit festzustellen, dass es ihm in erster Linie doch nur darum gegangen sei, seine eigene Macht auszubauen. Im einzigen englischsprachigen Aufsatz richtet sich der Blick von Małgorzata Mazurek auf soziale Netzwerke in der Lokalverwaltung im Polen der sechziger und siebziger Jahre. Besonders zu erwähnen ist, dass sie sich dabei auf zeitgenössische soziologische Studien stützen kann, die sie nun einer Netzwerkanalyse unterzieht – nicht ohne Gewinn. Árpad von Klimó zeigt die Grenzen einer Netzwerkanalyse auf, indem er deutlich macht, dass sich die von ihm untersuchten katholischen Jugendgruppen in Ungarn in den sechziger Jahren gar nicht selbst als Netzwerke verstanden, sondern von der Staatssicherheit speziell als solche bezeichnet wurden, um die Verfolgung zu systematisieren und zu erleichtern. Parallelen und Unterschiede von unternehmerischen Netzwerken in westlichen und staatssozialistischen Systemen beschreibt Friederike Sattler. Der Vergleich bietet neue Sichtweisen für weiterführende Interpretationen und macht klar, wie stark die kompensierende, ja sogar situationsstabilisierende Funktion der Netzwerke war. Zum Wortschöpfer wird Rafael Mrowczynski, wenn er den guten, aber seiner Meinung nach zu kurz greifenden Etakratie-Begriff um die Netzwerkkomponente ergänzt und dann von der „NEtakratie“ sowjetsozialistischer Gesellschaften spricht. Neben dem Staat als „Hauptorganisator des sozialen Raumes“ (S. 159) stellten inoffizielle Netzwerkbeziehungen ein „sehr wirklichkeitsmächtiges Moment der sozialen Differenzierung“ dar. Eine gelungene Kombination von Theorie und Fallstudie ist der Artikel von Arnd Bauerkämper über „Lokale Netzwerke und Betriebe in der DDR“, die „wichtige Agenturen der ‚Vergesellschaftung‘ und ‚Vergemeinschaftung‘“ gewesen seien. Nicht zuletzt durch ihre Fähigkeit zu sozialer In- oder Exklusion hätten Betriebe „als Multifunktionszentren eine Schlüs­selfunktion“ (S. 185) innegehabt, die sie sogar über Partei und Gemeindevertretungen gestellt habe. Peter Hübner schließlich sucht im letzten Aufsatz nach einem DDR-spezifischen Muster von Netzwerken, kommt aber über die bereits genannten Spezifika wie Dezentralisierung oder Improvisation statt Plan nicht hinaus.

So unterschiedlich die Netzwerke, Seilschaften, Patronageverhältnisse zu den verschiedenen Zeiten und in den unterschiedlichen Ländern des Staatssozialismus auch waren, gemeinsam ist ihnen, dass sie nahezu alle die Unzulänglichkeiten von Staat, Partei oder Institution kompensierten und das System dadurch einerseits unterhöhlten, andererseits aber weiter stützten und zu seiner Erhaltung beitrugen. Zu einer abschließenden Aussage dazu, ob eher die stabilisierende oder eher die zersetzende Funktion die Oberhand hatte und ob ein Zusammenhang mit Aufstieg und Niedergang der jeweiligen Systeme herzustellen ist, kommt das Buch leider (noch) nicht.

Ich hätte mir gewünscht, dass die Autoren die hervorragenden Definitionen und Überlegungen aus der Einleitung (Annette Schuhmann) und dem Ausblickskapitel (Christoph Boyer) mehr in ihre eigenen Arbeiten miteinbezogen hätten. Das hätte den an sich sehr interessanten und von der Herangehensweise her ungewöhnlichen Einzelstudien die Klammer gegeben, die das Buch zu einer sinnvollen Einheit zusammengefasst hätte. So bleibt es der Leserin bzw. dem Leser vorbehalten, die theoretisch-analytischen Gedanken auf die Beispiele anzuwenden. Immerhin gibt es ein übersichtliches gemeinsames Literaturverzeichnis zu allen Aufsätzen, das die Zusammengehörigkeit der Einzelbeiträge zum Ausdruck bringt.

Jana Bürgers, Offenburg

Zitierweise: Jana Bürgers über: Annette Schuhmann (Hrsg.) Vernetzte Improvisationen. Gesellschaftliche Subsysteme in Ostmitteleuropa und in der DDR. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2008. = Zeithistorische Studien, 42. ISBN: 978-3-412-20027-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Buergers_Schuhmann_Vernetzte_Improvisationen.html (Datum des Seitenbesuchs)

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