Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Jana Bürgers

 

Zenon E. Kohut: Making Ukraine. Studies on Political Culture, Historical Narrative, and Identity. Edmonton, Toronto: Canadian Institute of Ukrainian Studies Press, 2011, XV, 340 S. ISBN: 978-1-894865-22-7.

„Historical Information on What Basis Little Russia Was under the Polish Republic and by What Treaties It Came under Russian Sovereigns, and a Patriotic Opinion as to How It Could Be Ordered So That It Would Be Useful to the Russian State without Violations of Its Rights and Freedoms.“ (S. 21)

Dieser für uns recht lang wirkende Titel einer Abhandlung des ukrainischen Adeligen und Poltikers Hryhorij Poletyka aus dem 18. Jahrhundert fasst sehr schön zusammen, worum es in der Aufsatzsammlung Kohuts geht. Heute würden wir sagen, Gegenstand ist die Ukraine, doch das Wort Ukraine kommt bei Poletyka gar nicht vor, und bei Kohut heißt es im Titel seines Sammelbandes auch „Making Ukraine“. Genau genommen ist, was gemacht wird, noch nicht fertig. Es geht also um das, was als Vorläufer der heutigen Ukraine gelten kann. Kohut selbst schreibt später, Kleinrussland müsse als wichtiger Baustein und Vorspiel für die moderne ukrainische Nationsbildung wahrgenommen werden.

Kohut hat im vorliegenden Band 15 Aufsätze aus Zeitschriften, Festschriften und Sammelbänden aus über 30 Jahren mit der Begründung zusammengestellt, eine leichtere Verfügbarkeit der bis heute nicht veralteten Beiträge zu ermöglichen. Ein lohnenswertes Unterfangen.

Das Eingangszitat stammt aus dem ersten Aufsatz von 2003, in dem Kohut der Frage nach der russisch-ukrainischen Einheit bzw. den ukrainischen Eigenheiten im Denken und in der Kultur der frühmodernen Ukraine nachgeht. Er liest dafür sehr sorgfältig in den wichtigsten Geschichtstexten des 17. und 18. Jahrhunderts, z.B. in der „Synopsis“ (einer der ersten Geschichtsdarstellungen der östlichen Slawen, publiziert 1674 im Kontext des Kiewer Höhlenklosters), den Kosakenchroniken, deren berühmteste die von H. Hrabjanka und S. Velyčko (1710/20er Jahre) sind, dem „Razgovor“, einem fiktiven Dialog zwischen Groß- und Kleinrussland und den Abhandlungen von H. Poletyka. Die Leitfrage seiner Lektüre ist: Wohin zieht es die Ukraine – nach Polen-Litauen oder nach Russland? Er entdeckt doppelte oder sogar multiple Identitäten der Ukrainer, ein Phänomen, das für die damalige Zeit allerdings ganz normal war. Das Konzept Kleinrusslands, wie es von Adeligen und Denkern propagiert wurde, war der Versuch, diese multiplen Identitäten intellektuell zu rechtfertigen.

Der zweite Beitrag, ein Zeitschriftenaufsatz von 1996, ist quasi die ausführliche Begründung und Rechtfertigung für die Schwerpunktsetzung des ganzen Sammelbandes. Kohut vertritt die These, dass das sog. Kleinrussland des 18. Jahrhunderts, gleichzusetzen mit dem Kosakenhetmanat, bei Fragen nach der modernen ukrainischen Nationsbildung unbedingt beachtet werden müsse.

Ein recht früher Beitrag von 1981 widmet sich Forschungsproblemen und -desideraten beim Studium der ukrainischen Elite der Nach-Chmelnyckyj-Ära. Basierend auf Max Webers sozialwissenschaftlicher Definition der gesellschaftlichen Struktur mit den Kategorien Klasse, Status und Macht untersucht er, welche Historikerschule welchen Elementen besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat, wo Lücken und Versäumnisse klaffen und wo Möglichkeiten der Zusammenführung und Ergänzung liegen.

Diese Forderungen löst er im nächsten Aufsatz von 1983 selbst ein. Er erforscht die Struktur und politische Haltung der ukrainischen Elite, schildert die Schritte ihrer Integration in den russischen Adel, wirft einen Blick auf das Ausmaß der Ablehnung oder Akzeptanz dieser Integration und zeigt die Konsequenzen der Transformation des Adels für die weitere historische Entwicklung Kleinrusslands.

Um die Elite geht es auch in den beiden folgenden Aufsätzen. Im einen vertieft Kohut die Informationen über Leben, politische Ideen und Schriften des Adeligen Poletyka. Im anderen beschäftigt er sich wieder einmal mit den schon genannten zeitgenössischen Dokumenten, dieses Mal unter der Fragestellung, wie die politische Elite die Ereignisse von Perejaslav 1654 beurteilte. Ort und Jahr stehen für eines der am heftigsten umstrittenen Ereignisse der ukrainischen Geschichte. In dem Abkommen zwischen dem Kosakenhetman B. Chmelnyckyj und Vertretern des russischen Zaren ging es um den Grad der Autonomie und Abhängigkeit der Ukraine vom Russischen Reich, die Rechte und Freiheiten der Kosakenukraine und die Schutzfunktion des Zaren. Die Interpretation der damaligen Ereignisse bestimmt bis heute das ukrainisch-russische Verhältnis, wie im letzten Beitrag mit dem Titel: „Eine Gegenüberstellung mit dem russischen Erbe der Ukraine: Politik und Geschichte in der späten Kučma-Ära“ im Detail nachzulesen ist.

Ähnlich der fast vollständigen Integration des Adels ins Russische Reich erging es der ukrainischen orthodoxen Kirche. Äußerer Druck und innere Entwicklung waren die Gründe für die tiefgreifende Transformation der kirchlichen Organisation. Im Zeitraum von 1654 bis ins frühe 19. Jahrhundert verlor sie ihre Autonomie nahezu vollständig; nur in den Volkstraditionen lebten wenige lokale ukrainische Besonderheiten fort.

Auch wenn die Historiographie schon im ersten Teil des Buches immer wieder eine wichtige Rolle spielt, so steht sie im zweiten Teil nun wirklich im Vordergrund. Im wohl schwächsten Aufsatz der ganzen Zusammenstellung geht es um biblische und ethnische Ursprünge der Slawen in der polnischen, ukrainischen und russischen Historiographie. Versteckt unter (zu) vielen Details lässt sich erkennen, dass biblische Quellen jeweils so interpretiert wurden wie es die jeweiligen Schreiber gerade opportun fanden, um die eigene Dominanz zu rechtfertigen und die Herkunft des eigenen Volkes auf möglichst alte Ursprünge zurückführen zu können.

Deutlich interessanter liest sich da der Vergleich zweier Geschichtswerke, nämlich der „Geschichte der Zaren und Großfürsten des Rus-Landes“ von F. A. Gribojedov und der bereits erwähnten „Synopsis“. Während beiden die Rolle von Dynastie, Staatlichkeit und Religion wichtig ist, fügt die „Synopsis“ noch den Aspekt von Volk/Nation oder Ethnos hinzu, ein Konzept, das erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts schließlich auch in der russischen Geschichtsschreibung Beachtung zu finden begann.

Etwas weiter spannt Kohut den Bogen, wenn er die Entwicklung der ukrainischen nationalen Historiographie im Russischen Imperium untersucht. Er sieht unbedingt einen Zusammenhang von Historiographie und Identitätsbildung und zeigt durch die Vorstellung und Diskussion der wichtigsten Darstellungen der ukrainischen Geschichte, wie sich Geschichtsschreibung und Identität der Ukraine allmählich emanzipierten.

Unter dieser Voraussetzung kann er dann auch „Geschichte als Kampfplatz für die russisch-ukrainischen Beziehungen“ bezeichnen, was nach der Unabhängigkeit der Ukraine nach 1990 durch die Wiederentdeckung von Themen wie dem Kosakenhetmant nochmals neue Aktualität erfuhr.

Die Mechanismen, denen die Geschichtsschreibung unterliegt, legt Kohut am Beispiel des Judenbildes dar. Wieder widmet er sich den uns schon bekannten Quellen („Synopsis“, Chroniken, etc.) und zeigt, wie Stereotype entstehen, welchen Weg sie von Darstellung zu Darstellung nehmen, oftmals stark beeinflusst von aktuellen Ereignissen zur Zeit der Niederschrift, wie ausländische Historikerschulen Einfluss nehmen und selbst in der Folklore ihren Niederschlag finden.

Zwei solide Rezensionsartikel sind auch noch in dem Sammelband enthalten: einer zu Werken über die Haidamakenbewegung und der andere zu postsowjetischen Studien über das Kosakenhetmanat. Kohut behandelt jeweils fair Stärken und Schwächen der Darstellungen und ergänzt sie dann um seine eigene Sichtweise.

Kohuts Aufsatzsammlung ergibt ein beeindruckendes Mosaikbild wichtiger Aspekte der kleinrussischen Geschichte. Anders nämlich als bei vergleichbaren Zusammenstellungen erhalten hier die Einzelaufsätze durch die neue Kontextualisierung wirklich einen Mehrwert, indem sie sich ergänzen, einzelne Aspekte vertiefen, von einer anderen Seite beleuchten und so das Bild reich und schillernd machen.

Jana Bürgers, Offenburg

Zitierweise: Jana Bürgers über: Zenon E. Kohut: Making Ukraine. Studies on Political Culture, Historical Narrative, and Identity. Edmonton, Toronto: Canadian Institute of Ukrainian Studies Press, 2011, XV, 340 S. ISBN: 978-1-894865-22-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Buergers_Kohut_Making_Ukraine.html (Datum des Seitenbesuchs)

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