Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Jana Bürgers

 

Ines Koeltzsch: Geteilte Kulturen. Eine Geschichte der tschechisch-jüdisch-deutschen Beziehungen in Prag (1918–1938). München: Oldenbourg, 2012. VIII, 430 S., 12 Abb., 6 Ktn., 17 Tab. = Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 124. ISBN: 978-3-486-71241-4.

Prag in der Zwischenkriegszeit. Da hat man so seine Bilder im Kopf, seine Kategorien; das Ende ist klar, die Interpretation dessen, was vorher war, genau dadurch vorherbestimmt. Hier macht Ines Koeltzsch nicht mit, fügt nicht die x-te Studie zu Kafka und Co. hinzu, sondern legt die erste Arbeit vor, die den Ansatz der integrierten Stadtgeschichte auf Prag anwendet. Sie führt uns die Stadt als Wirklichkeit vor, „die durch Interaktionen, Erfahrungen, Erzählungen, Bilder und Darstellungen verschiedener Gruppen aktiv hervorgebracht und verändert wird“ (hier zitiert sie M. Featherstone, S. 17). Koeltzsch bedient sich dafür der Ansätze der neuen Kulturgeschichte, die soziale Phänomene vornehmlich als Konstrukte, als Ergebnisse von Diskursen betrachtet, als so intensiv „ausgedacht“ und „herbeigeredet“, dass sie eine eigene Wirkmächtigkeit erhalten. Gleichzeitig versteht sie ihr Buch als Gegenthese zur bzw. Hinterfragung der Riga-Studie von Ulrike von Hirschhausen, die von Prag, das sie als Vergleich heranzieht, behauptet, es herrschten dort geschlossene Milieus, deren Grenzen die Intellektuellen nicht zu überwinden vermochten. Insbesondere die Juden behandelt Koeltzsch in diesem Zusammenhang anders: sie werden nicht als angepasste Minderheit oder Gegenwelt, sondern in ihrer aktiven Teilhabe an Integrationsprozessen betrachtet, wodurch dann Begriffe wie Akkulturation, Assimilation oder Integration eine ganz neue Definition erhalten. Das Ziel der Autorin ist es, „ein differenziertes, multiperspektivisches Bild des tschechisch-jüdisch-deutschen Beziehungsgeflechts herauszuarbeiten, das die Heterogenität der weitgehend homogen vorgestellten Mehr- und Minderheiten deutlich macht. Die Studie leistet damit gleichzeitig einen Beitrag zu einer inter- und transkulturellen Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte multiethnischer Stadtgesellschaften in Ost- und Ostmitteleuropa zwischen den Weltkriegen.“ (S. 4)

Das klingt zunächst einmal trocken, doch Koeltzsch gelingt es, die abstrakten Schlagworte mit Leben zu erfüllen – man höre und staune sogar mit Hilfe der Statistik. Der erste von vier Hauptteilen behandelt nämlich die Volkszählungen von 1921 und 1930, an sich wieder eine Materie, welche sich naturgemäß nur schwer in eine lesbare oder gar anregende Narration überführen lässt. Doch der Autorin geht es weniger um die Zahlen, als vielmehr um die Akteure, das heißt die Volkszählungsexperten, und deren Diskussionen über den Zuschnitt der Volksbefragung. Was ist eigentlich Nationalität, was sollen die Kriterien zu ihrer Bestimmung sein, wie lassen sich einzelne Personengruppen voneinander abgrenzen, wie kann man durch möglichst geschickte Kategorisierung die Stärke der eigenen Gruppe statistisch besonders hoch erscheinen lassen? Anhand dieser Punkte werde schon deutlich, so Koeltzsch, dass den Volkszählungsexperten „die integrative Funktion des modernen Zensus“ (S. 30) am Herzen lag, die Vorstellung, jeder sei erfassbar. Mithilfe von durch entsprechende Leitbilder geprägten ‚Konstruktionsprozessen‘ versuchten sie, eine vermeintliche Homogenisierung der Gesellschaft zu erreichen. Kein Wunder, dass Mehrsprachigkeit oder multiple Identitäten gar nicht abgefragt, sondern vielmehr als Störfaktor empfunden wurden. Eine Besonderheit war einzig die Tatsache, dass sich im Prinzip jeder, „unabhängig von seiner Muttersprache, Religion oder Herkunft zur jüdischen Nationalität bekennen“ konnte. (S. 38)

Die Volkszählung führte aber nicht nur in Expertenkreisen zu erbitterten Auseinandersetzungen, sondern sorgte auch im Vorfeld für nationale und konfessionelle Konflikte, die sich in der Presse niederschlugen. In Zahlen ausgedrückt reden wir übrigens von rund 90% Tschechen, 5% Deutschen und nicht einmal einem Prozent Menschen jüdischer Nationalität.

Im zweiten Hauptteil geht es um die Kommunalpolitik, genauer um die Machtverhältnisse im Stadtparlament, um Identitätskonstruktionen, wie sie sich in Sprach- und Bildungspolitik oder im Umgang mit Ehrungen manifestieren, und die Gründe für die gewalttätige Judenfeindlichkeit. Die Autorin arbeitet hier nach den „neueren Erkenntnissen der Kulturgeschichte des Politischen, wonach Symbole [] einen konstitutiven Bestandteil politischen Handelns bilden“ (S. 92). Einen Großteil der oft nationalistisch-chauvinistischen Akte und Haltungen erklärt sie mit der neuen Rolle Prags als Hauptstadt eines sich nationalisierenden Staates. Gleichzeitig mussten die städtischen Akteure einen Großteil ihrer Kompetenzen an die neuen staatlichen Stellen abgeben, einen Verlust, den sie, so Koeltzsch, mit besonders nationalistisch-repräsentativen bzw. symbolischen Akten zu kompensieren versuchten. Sie machten die Stadt zur Bühne und sich zu (wenigstens symbolischen) Repräsentanten der neuen politischen Ordnung. Während die Stadtverordneten im Rat und in den Gremien miteinander agierten, grenzten sie sich nach außen massiv voneinander ab. Als Beispiele seien die Abschaffung des deutschen Sprachunterrichts an tschechischen Volksschulen 1920 genannt oder das massive Vorgehen gegen deutschsprachige Plakate und Firmenschilder im Stadtbild. Selbst Speise- und Eintrittskarten durften keinesfalls ausschließlich deutschsprachig sein.

Zusammenfassend kann also festgestellt werden, dass ein Großteil der sogenannten national „Anderen“ in erster Linie eine „diskursive Konstruktion“ war, die dann über die symbolische Ausgrenzung sogar zur realen Ausgrenzung bis hin zu gewalttätigen Ausschreitungen führte. (S. 177)

Dominierten in den ersten beiden Teilen die nationstrennenden Faktoren, so liegt der Schwerpunkt in den beiden anderen Teilen auf den verbindenden Aspekten des Zusammenlebens in Prag.

Koeltzsch nimmt im dritten Teil die Intellektuellen, hier vor allem durch Schriftsteller, Übersetzer und Journalisten repräsentiert, in den Blick, um zu zeigen, wie diese Personen kulturelle Vermittlungsarbeit leisteten. Insbesondere Prager jüdischer Herkunft zeigten besonderen Antrieb und Fähigkeiten dazu. Des Weiteren unternimmt sie eine Detailanalyse der Zeitschriften „Die Wahrheit“ und „Přítomnost“, die auf jeweils unterschiedliche Weise den kulturellen Austausch beförderten, die Selbstverständlichkeit der nationalen Grenzziehungen auch einmal in Frage stellten, ohne jedoch wirklich von der „sittlich fundierten Nationsidee“ (S. 251) loszukommen. Mit diesem Ergebnis modifiziert Koeltzsch die These Scott Spectors für Prag dahingehend, dass es sehr wohl aktive „middle men“ gegeben habe, deren Arbeit aber nicht zu einer „middle nation“ geführt habe.

Die neuen Orte des Vergnügens, und darunter besonders das Kino, sind Dreh- und Angelpunkt des letzten Teils der Arbeit. Wir dürfen der Autorin ins Kabarett, in Kaffeehäuser und ins Kino folgen, mit ihr durch die Stadt und über den sich rasant verändernden Wenzelsplatz schlendern und dabei erleben, dass nicht sprachlich-nationale Grenzen, sondern Geschmack und soziale Zugehörigkeit den Zugang zu diesen Stätten moderner Urbanität bestimmten. Was weder Volkszählungsexperten noch Kommunalpolitikern und auch den Intellektuellen nur bedingt gelang, machten Besucher und Betreiber, Konsumenten und Konstrukteure der Großstadtkultur möglich: die Überwindung nationaler Grenzziehungen (S. 331) – dieses unterhaltsamste und anschaulichste Kapitel sollte man am besten selbst lesen.

Ein bisschen mehr auswertende und bündelnde Zusammenführung der beeindruckenden Details aus dem enormen Quellenkorpus und eine stärkere Rückbindung an die gut im Forschungsstand verankerte Einleitung wären noch das Tüpfelchen auf dem i eines ansonsten interessanten und erhellenden Buches gewesen. Leider geht so manche Antwort auf die dem Buch zugrunde liegenden Leitfragen in der Fülle der Informationen aus den unterschiedlichen Lebens-und Politikbereichen unter. Es ist wohl ein typisches Problem von Dissertationsschriften, dass die Erkenntnis vom Stoff erschlagen zu werden droht. Ganz wie im Prag der Nachkriegszeit sollten die Quellen der einzelnen Gebiete eben nicht nur für sich zum Sprechen gebracht werden, sondern auch in ihren Beziehungen und Verflechtungen untereinander eine Fürsprecherin finden. Dann würde noch deutlicher, wie die Erkenntnisse aus einer Studie über das Zusammenleben von kulturell und sprachlich verschiedenen Menschen im historischen Prag Vorbild für unsere heutigen multikulturellen Gesellschaften sein können.

Jana Bürgers, Offenburg

Zitierweise: Jana Bürgers über: Ines Koeltzsch: Geteilte Kulturen. Eine Geschichte der tschechisch-jüdisch-deutschen Beziehungen in Prag (1918–1938). München: Oldenbourg, 2012. VIII, 430 S., 12 Abb., 6 Ktn., 17 Tab. = Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 124. ISBN: 978-3-486-71241-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Buergers_Koeltzsch_Geteilte_Kulturen.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2014 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Jana Bürgers. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.