Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Jana Bürgers

 

Zwischen Stadt und Steppe. Künstlerische Texte der ukrainischen Moderne aus den 1910er bis 1930er Jahren. Hrsg. und komm. von Marina Dmitrieva. Zusammengestellt von Marina Dmitrieva / Dmytro Horbachov. Aus dem Ukrainischen übersetzt von Claudia Dathe. Aus dem Russischen übersetzt von Heidemarie Petersen. Berlin: Lukas, 2012. 336 S., 28 Abb. ISBN: 978-3-86732-119-8.

Ja, es habe auch eine eigene ukrainische Avantgarde gegeben, wenngleich sie immer im Schatten der russischen stand und bis heute stehe. Das jedenfalls postuliert die Herausgeberin in ihrer Einleitung zum Sammelband Zwischen Stadt und Steppe. Das Buch ist im Anschluss an die Tagung Ostmitteleuropa und die Steppe des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) entstanden. Beim Versuch, die moderne ukrainische Kunst zu definieren, muss Dmitrieva allerdings zugeben, dass es schwierig sei, sie von der russischen oder auch der deutschen und französischen Moderne abzugrenzen, gerade weil sie weg von nationalen Besonderheiten, Heimattümelei und Provinzialismus hin zum allgemein gültigen Internationalismus strebe und stilistisch, national und regional vielfältig sei. So ist denn auch die Hälfte der vorgestellten Texte im Original russisch verfasst, die andere Hälfte ukrainisch, zwei Beiträge erscheinen im englischen Original; die Autoren haben bunte Lebensläufe mit vielfältigen Studienorten und Wirkungsstätten in Moskau, St. Petersburg, Kiew, Lemberg, Paris, Berlin oder München und sogar Japan. Dmitrieva begründet ihre Auswahl damit, dass die Texte an der  Schnittstelle zwischen Ost und West, zwischen Europa und Russland zu verorten seien und alle eine Bedeutung für die Grundpositionen der ukrainischen Kultur besäßen oder wenigstens eine thematische Bezugnahme zur Ukraine aufzuweisen hätten. Ziel aller Künstler und Autoren sei es gewesen, „die Kultur in der Ukraine aufzubauen“ (S. 25). Um so tragischer und paradoxer ist, dass viele der Autoren in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts den Tod im Lager fanden oder hingerichtet wurden, verfolgt als reaktionäre ukrainische Nationalisten, obwohl sie sich doch für die Erneuerung der ukrainischen Kultur innerhalb der neuen sozialistischen Ordnung eingesetzt hatten.

Indem die Herausgeberin Erinnerungen, theoretische Texte, Reden und Zeitschriftenbeiträge (v.a. aus den beiden konkurrierenden avantgardistischen Zeitschriften Nova Heneracija (Neue Generation) und Avanhard (Avantgarde) von Künstlern und Theoretikern zugänglich macht, möchte sie Antworten geben auf die Fragen, wo denn die Quellen dieser neuen Kunst liegen und wie die Verbindungen von Tradition und Moderne hergestellt werden. Es kristallisiert sich heraus, dass die Stadt auf der einen, die Steppe oder das Land auf der anderen Seite die beiden Endpunkte darstellen: die Stadt steht dabei als Zentrum für dynamische Brüche und Diskontinuität, für Fortschritt, Hektik und Bewegung, all die Momente, die den Futurismus per se ausmachen; die Peripherie symbolisiert dagegen Tradition, Kontinuität und Verbundenheit mit der Natur. Manche Künstler sehen zwischen diesen Welten Energieströme fließen, aus denen sie künstlerische Inspiration schöpfen.

Die rund 30 Beiträge sind in drei Abteilungen sortiert: Von der Ethnographie zur Ästhetik: Konzepte nationaler Kunst, Die Kunst und ihre Elemente sowie Die Kunstismen. Das ist zwar gut gemeint, doch wirklich helfen tut diese Zusammenstellung nicht: Zu heterogen sind die einzelnen Texte, zu verschieden in Form, Stil und Intention.

Die Palette reicht in der ersten Abteilung von autobiographischen Erinnerungen Benedikt Livšics an seinen Besuch auf dem Gut Černjanka in der südrussischen Steppe bei der Künstlerfamilie Burljuk über einen Vortrag des Malers, Theoretikers und Kunstpädagogen Aleksandr Bogomazov auf dem Allukrainischen Künstlerkongress 1918 bis zu den Positionen einer jüdischen Kunsttheorie. Issachar Ber Ryback und Boris Aronson legen darin die Vermischung nationaler und jüdischer Spezifika dar und stellen die Anpassungsfähigkeit der Juden besonders heraus.

Vasilij Kandinskij und Kazimir Malevič sind wohl die berühmtesten Namen im zweiten Block. Hier erfährt man aus unterschiedlichen Blickwinkeln den Weg zur neuen modernen Kunst, von ihren Vorläufern und Traditionen. Je nach ideologischer Verortung der Schreiber gilt es, das Alte komplett über Bord zu werfen oder daraus organisch das Neue zu entwickeln.

Die meisten Beiträge des dritten Blocks über die „Kunstismen“ sind sehr speziell, gehen ins Philosophische und behandeln so eigenartige Dinge wie den Spiralismus oder den Lebensbiometer.

Eine Sonderstellung nimmt der Abschnitt Zum Umbau der künstlerischen Front ein. Wirklich bemerkenswert sind die Reden dreier Künstler auf dem „Plenum des Organisationsbüros des Verbandes sowjetischer Maler und Bildhauer der USSR von 1933“. Selbstkritik in Reinkultur legt hier Zeugnis von einer Wende in der Kulturpolitik ab und dokumentiert den Versuch, im letzten Moment den Hals aus der Schlinge zu ziehen, ohne das eigene Lebenswerk verraten zu müssen.

Wohl niemand wird den Sammelband von Anfang bis Ende lesen. Verdienst der Zusammenstellung ist daher wohl vor allem, dass Texte übersetzt zugänglich gemacht wurden, die zuletzt vor rund 100 Jahren erschienen sind. So lässt sich der häufig agitatorische O-Ton, aber auch die Begeisterung für das Neue unmittelbar erleben. Leider helfen die Anmerkungen der Herausgeberin nicht immer zum Verständnis, da oftmals nur die Quellen genannt werden. Wenn sie jedoch wirklich etwas anmerkt, ist das sehr interessant. Bedauerlicherweise verstecken sich manche Erklärungen zu einzelnen Texten auch in der Einleitung. Hier wären eine kürzere und dafür analytischere Einleitung und ausführlichere Anmerkungen zu den einzelnen Beiträgen hilfreicher gewesen. Schade auch, dass Abbildungen nur in der Einleitung abgedruckt sind. Sie hätten dem Verständnis von Kunst auch noch etwas Erlebnis hinzufügen können.

Jana Bürgers, Offenburg

Zitierweise: Jana Bürgers über: Zwischen Stadt und Steppe. Künstlerische Texte der ukrainischen Moderne aus den 1910er bis 1930er Jahren. Hrsg. und komm. von Marina Dmitrieva. Zusammengestellt von Marina Dmitrieva / Dmytro Horbachov. Aus dem Ukrainischen übersetzt von Claudia Dathe. Aus dem Russischen übersetzt von Heidemarie Petersen. Berlin: Lukas, 2012. 336 S., 28 Abb. ISBN: 978-3-86732-119-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Buergers_Dmitrieva_Zwischen_Stadt_und_Steppe.html (Datum des Seitenbesuchs)

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