Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Matthias Bürgel

 

Wladislaw Hedeler: Nikolai Bucharin – Stalins tragischer Opponent. Eine politische Biographie. Berlin: Matthes & Seitz, 2015. 638 S., 42 Abb. ISBN: 978-3-95757-018-5.

Georgij Černjavskij / Michail Stančev / Maria Tortika (Lobanova): Žiznennyj put’ Christiana Rakovskogo 1873–1941. Evropeizm i bol’ševizm. Neokončennaja duėl’. Moskva: Centrpoligraf, 2014. 880 S., 1 Abb. ISBN: 978-5-227-05277-3.

Als Kader mit internationaler Erfahrung waren sowohl Bucharin als auch Rakovski nach der Machteroberung der Bolševiki an der Behauptung ihrer Herrschaft auch jenseits der Grenzen Sowjetrusslands beteiligt. Über den Tod Lenins hinaus (aber konträr in der Parteinahme für Trockij) waren beide in die inneren Parteikämpfe involviert, bis sie zu „Opponenten“ (Stalins) wurden. Mittel im Kampf gegen interne Gegner waren Denunziationen und öffentliche Kampagnen, Forderungen nach Distanzierung und nach Schuld- und Reuebekenntnissen sowie schließlich der dritte Moskauer Schauprozess, in dem beide als Angeklagte und zugleich als Zeugen der großen (Partei-)Geschichtsrevision präsentiert wurden.

Bei dem Versuch, Leben und theoretisches Werk eines der prominentesten Konkurrenten Stalins in einem Band zusammenzufassen, folgt Wladislaw Hedeler, ein ausgewiesener Bucharin-Experte, der Pionierarbeit von Adolf G. Löwy (1969/1990) sowie der wichtigen Biographie von Stephen F. Cohen (1973/1980). In den ersten beiden seiner insgesamt acht Kapitel umfassenden Arbeit räumt der Autor – die Blindflecken seiner Vorgänger vor Augen – dem jungen Bucharin (bis 1909) und seinem Leben im Exil (von 1910 bis 1917) einen „gebührenden Platz“ (S. 542) ein.

Geboren 1888 in Moskau in einer Lehrerfamilie, wo er einen Teil seiner Kindheit in Bessarabien zubrachte, stieß Bucharin im Gefolge der ersten russischen Revolution von 1905 zur Russländischen Sozialdemokratischen Partei (bolschewistischer Flügel), kurz RSDRP(b). Nach seiner Rückkehr aus dem Exil im Mai 1917 gehörte er dem Zentralkomitee (CK) der RSDRP(b) und nach deren Umbenennung im März 1918 der Kommunistischen Partei der Bolševiki, kurz RKP(b), dem formal höchsten Gremium des Parteiapparats, an. Ende 1917 trat er in die Redaktion des Parteiorgans Pravda ein, ab März 1919 war er Kandidat, ab Juni 1924 Vollmitglied im Politbüro des CK der RKP(b), dem neuen Macht- und Führungsgremium der Partei. Ebenfalls im März 1919 war er an der Gründung einer eigenen (=kommunistischen) Internationale (Komintern) beteiligt. Der von Lenin zum „Liebling der ganzen Partei“ erklärte Parteiideologe kämpfte 1925 an der Seite Stalins gegen die „Neue Opposition“ um Grigorij Zinovev und Lev Kamenev sowie 1926 gegen die von diesen und Trockij geführte „Vereinigte Opposition“. Als (faktischer) Nachfolger von Zinovev übernahm Bucharin – wenig erfolgreich – die Führung in der Komintern. Spätestens 1928, vor allem seit 1929, wurden seine Prognosen und Programmziele (von Stalin) diskreditiert, bis er schließlich auf dem Vereinigten Plenum von CK und Zentraler Kontrollkommission (CKK) vom 6. bis 11. April 1929 von seiner Arbeit in der Pravda und in der Komintern entbunden und am 17. November 1929 auf Beschluss des Plenums des CK Über die Gruppe des Genossen Bucharin (zusammen mit Aleksej Rykov und Michail Tomskij) als „Initiator und Führer der rechten Abweichler“ aus dem Politbüro entfernt wurde. Am 26. November druckte die Pravda eine reuevolle „Erklärung der Genossen Tomskij, Bucharin und Rykov“.

Bis zum November-Plenum von 1929, das den Wirtschaftskurs in Richtung auf forcierte Industrialisierung und Zwangskollektivierung der Landwirtschaft mit der Liquidierung des „Kulakentums“ bestätigt, also auf den ersten zirka 300 Seiten des Buches, werden recht solide Einblicke in Bucharins Leben und Wirken gegeben. Aber schon im vierten Kapitel zur Problematik der (ideologischen) Nachfolge nach Lenins Tod werden die verschiedenen (Wirtschafts-)Theorien Bucharins kaum noch chronologisch und linear dargestellt. Problematisch ist auch, dass Hedeler das in diversen kleinen, jeweils mit einem Namen [Rosa Luxemburg, August Thalheimer etc.] überschriebenen Zwischenkapiteln tut. Das Fehlen eines allgemeinen Konzepts, einer Fragestellung, unter der das (politische) Wirken Bucharins analysiert würde, macht sich nun bemerkbar. Auf den „Absturz als Politiker“ folgte der „Aufstieg als Wissenschaftler“ (S. 301); gemessen an seinem Schrifttum seien die Jahre 1931 und 1934 ausgesprochen produktiv gewesen (S. 306).

Ab 1930 wurde Bucharin (wie auch Rykov) immer wieder beschuldigt, „Ideengeber“ (S. 356) angeblicher Verschwörergruppen zu sein. Problematisch ist, dass bei Hedeler sehr vieles unerwähnt bleibt, beispielsweise dass Tomskij, Rykov und Bucharin auf dem 16. Parteitag im Juli 1930 erneut heftig kritisiert wurden, dass aber Krankheit letzterem den erneuten Auftritt als Sünder ersparte, und dass die Pravda vom 20. November 1930 eine erneute reuevolle „Erklärung N. Bucharins“ veröffentlichte, in der dieser bedauerte, nicht schon früher Stellung genommen zu haben, um sich dann der Reihe nach von einigen Personen und zum Teil namentlich genannten Gruppen zu distanzieren. Dem unerfahrenen Leser werden die solcherart öffentlich als Oppositionelle oder Teil einer Oppositionsgruppierung Bezichtigten nicht vorgestellt. Gleichwohl dienen die Namen als Zwischenüberschriften des mit Die Säuberungen überschriebenen Unterkapitels. Auch werden Personen im fortlaufenden Text nicht oder nur unzureichend eingeführt, beispielsweise der (parteilose) Ökonom und Marx-Forscher Issak Rubin (S. 350 ff.) oder Sergej Bessonov (S. 359), einer der ersten Absolventen der ökonomischen Abteilung des Instituts der Roten Professur, der dort ab 1927 als ihr Leiter heftig gegen Rubin polemisierte und sich 1929 auch an der großangelegten Kampagne gegen Bucharin beteiligte, aber später im dritten Schauprozess gegen Bucharin und Rykov (Tomskij hatte vorher Selbstmord verübt) mitangeklagt wurde.

Die kurzen Unterkapitel Sozialismus als Vision und Die Lehre von Marx und ihre historische Bedeutung taugen weder als Fazit, noch bilden sie einen befriedigenden Übergang zu den nächsten drei Kapiteln (Das Ende der Bucharinschule, Von der Akademie auf die Anklagebank und Zwischen Plenartagung und 3. Schauprozess). Auch die Miniunterkapitel Wissenschaftsorganisation und Kulturtheorie und Faschismuskritik zwischen Kapitel sechs und sieben sind wenig ergiebig. Ein wichtiges, wohl auf Bucharins Haftzeit im Jahr 1937 bezogenes Fazit (S. 406) wäre am Ende des Kapitels oder sogar des gesamten Bandes, wo jegliche Form von Zusammenfassung und Fazit fehlt, sinnvoller gewesen.

Auch mit der Biografie von Christian Rakovski verbindet sich großer Forschungsbedarf, selbst wenn der französische Historiker Francis Conte schon früh eine umfangreiche politische Biographie (Lille [u.a.] und Paris 1975) und einen Band über Rakovskis diplomatische Tätigkeiten (Paris [u.a.] 1978) vorgelegt hat. Ausdruck der intensiven Beschäftigung von Georgij Černjavskij und Michail Stančev mit Rakovski waren drei bisherige Publikationen (Charkov 1993, 1994 und 1997). Für die hier vorzustellende Arbeit wurde mit Maria Tortika eine Expertin für die Rolle Rakovskis in der sozialistischen Bewegung Bulgariens Anfang des 20. Jahrhunderts einbezogen.

Das Buch besteht neben einer kurzen Einleitung und ebenso kurzen Schlussbemerkungen aus fünf Kapiteln, die einzelne, durch wichtige Zäsuren voneinander getrennte Lebensabschnitte abdecken; nützliche Anhänge wie ein Sach- oder Personenregister fehlen. Das erste, chronologisch längste Kapitel umfasst die Lebensspanne bis zu den revolutionären Umbrüchen von 1917. Mehrfach berufen sich die Autoren in den Quellenangaben hier auf Pierre Broué (Rakovsky ou la Révolution dans tous les pays. Paris 1996).

Geboren wurde Rakovski 1873 in einer kleinen Stadt im osmanischen Bulgarien als Krăstju Georgiev Stančev (keine Verwandtschaft zum Autor). Seine Mutter war die Nichte des 1867 verstorbenen Georgi Sava Rakovski, dessen Artikel und Gedichte gegen die osmanische Fremdherrschaft ihm eine Inspirationsquelle (auch für den Namenswechsel) waren. Sein Vater besaß ein Gut nahe der Stadt Mangalia am Schwarzen Meer. Nach dem Russisch-Osmanischen Krieg (1877–1878) fiel das Gebiet an Rumänien; die spätere Übersiedelung dorthin war der Auftakt zu einem Leben als geographischer und kultureller Grenzgänger zwischen zahlreichen europäischen Städten und Staaten, zunächst 1891 als politisch aktiver Medizinstudent der Universität Genf, dann in Berlin, Zürich, Nancy und Montpellier, wo Rakovski sein Medizinstudium 1897 mit einer Doktorarbeit abschloss. Zahlreiche Kontakte zu Größen der sozialdemokratischen Bewegung entstanden. Aufenthalte in St. Petersburg folgten. Als im Sommer 1903 sein Vater starb, übernahm er dessen Gut; fortan war er der „einzige Großgrundbesitzer“, der „erhebliche Teile seiner Einkünfte den Bedürfnissen der Sozialdemokratie zur Verfügung stellte und selbst aktiv in der sozialdemokratischen Bewegungen Rumäniens, Bulgariens und Europas teilnahm“ (S. 37). Eine enge Verbindung entstand zum „unabhängigen Sozialdemokraten“ Trockij (S. 38), der ihm bis 1934 in Freundschaft verbunden blieb. Das Propagieren einer Balkanföderation (als Modell zur Vermeidung von Nationalitätenkonflikten) wurde zum Steckenpferd des „vielseitigen Sozialisten“ (S. 59).

Rakovskis „politische Evolution von 1917“ (S. 80) – Ausgangspunkt für Kapitel 2 – begann mit Rumäniens Kriegseintritt im August 1916 und seiner Inhaftierung. Die revolutionären Ereignisse im Februar 1917 in Russland hatten großen Einfluss auf die Situation im Land; schließlich wurde Rakovski im Mai 1917 von russischen Truppen freigelassen. Versuche der Provisorischen Regierung zur Kontaktaufnahme über Pavel Miljukov und Irakli Zereteli bleiben ohne Quellenangabe Spekulation; nach dem Oktoberumsturz folgte, wohl unter dem Einfluss von Trockij, die Annäherung an Lenin (S. 85).

Als einer von „Petrograds [d. i. Lenins und Trockijs] Emissären“ wurde er im Februar 1918 in die kurzlebige Sowjetrepublik Odessa geschickt (wo er einen Friedensvertrag mit Rumänien, der den Abzug rumänischer Truppen aus Bessarabien vorsah, aushandelte). Ab Januar 1919 begann seine Zeit als Politiker und Diplomat, zunächst als Vorsitzender der Provisorischen Arbeiter- und Bauernregierung der Ukraine und später als Vorsitzender des Rats der Volkskommissare der analog zur Russländischen SFSR gegründeten Ukrainischen SSR. Im März 1919 nahm er als Vertreter der Föderation der Kommunistischen Parteien der Balkanländer auf dem Gründungskongress der Komintern teil, später an den großen internationalen Konferenzen von Genua/Rapallo und Lausanne, gerade als sich Ende 1922 die Union Sozialistischer Sowjetrepubliken gründete. Damit endete diese „wichtige und dynamische Etappe der Tätigkeit Rakovskis, im Rahmen derer seine Funktion als Diplomat nicht die hauptsächliche war“ (S. 165). Abschließend wird in einem weiteren Unterkapitel ausführlich über die Vorgeschichte (Herbst 1922) und die Nachwirkungen (Juni 1923) seiner ersten öffentlichen Auseinandersetzung mit Stalin auf dem 12. Parteitag im April 1923 berichtet.

Mit seiner Abberufung aus der Ukraine begann Rakovskis eigentliche Diplomatenkarriere, die ihn als Bevollmächtigten Vertreter der Sowjetunion in die Hauptstädte zweier europäischer Großmächte führte, im Herbst 1923 nach London, im Oktober 1925 nach Paris. Diese Zeit wird in einem eigenen Kapitel unter dem Blickwinkel der jeweiligen Instruktionen und Aufgaben dargestellt. Zu Beginn des folgenden vierten Kapitels, das sich der Zeit der Opposition und der politischen Verbannung widmet, wird erklärt, dass Rakovski schon 1923, über Trockij, in den (links-)„oppositionellen Kampf“ einbezogen war, was aber noch „keine Opposition, sondern ein Abgehen von der Generallinie“ (S. 317) bedeutete. Später folgte eine (nur) kurzzeitige Beteiligung an der „Neuen Opposition“ um Zinovev und Kamenev. In Frankreich wurde Rakovski zur persona non grata erklärt, weil er sich, wie auch Kamenev, der seit Februar 1927 als Bevollmächtigter Vertreter in Rom war, im Juli 1927 Trockijs und Zinov’evs „Plattform der Vereinigten Opposition“ angeschlossen hatte. Der 15. Parteitag im Dezember 1927 erlebte den (vorläufigen) Höhepunkt seiner Rolle als „Oppositioneller“; dort wurde sein und Kamenevs Parteiausschluss beschlossen. Am 3. Januar 1928 wurde Rakovski auf Beschluss des Politbüros nach Astrachan verbannt.

Ausführlich wird ein dort Anfang August 1928 verfasster Brief behandelt, der in einer Kurzfassung erstmals in Trockijs 1929 in Paris gegründeter Zeitschrift Bjulleten Oppozicii erschien (eine deutsche Übersetzung der Langfassung findet sich in: Leo Trotzki: Schriften. Bd. 1,2: Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur [1936–1940]. Hrsg. von Helmut Dahmer [u.a.]. Hamburg 1988, S. 1344–1363). Kurze Erwähnung findet auch eine in Saratov, seit November 1928 Rakovskis neuer Verbannungsort, verfasste Erklärung an das CK und die CKK vom 22. August 1929 (Leo Trotzki: Schriften. Bd. 3,3: Linke Opposition und IV. Internationale [1928–1934]. Hrsg. von Helmut Dahmer [u.a.]. Hamburg 2001, S. 657–668), die eine erneute Annäherung der Parteiführung an die ausgeschlossene LinksOpposition anmahnte (das Vorgehen gegen Bucharin, Rykov und Tomskij als „rechte Abweichung“ wurde demgegenüber gelobt) und die Wiederaufnahme der ausgeschlossenen Oppositionellen in die Partei unter voller Wahrung ihrer statutenmäßigen Rechte forderte. Noch im August folgte Rakovskis Überführung in das entlegenere Barnaul (Altai). Die folgende Zeit bis zu seiner Unterwerfung unter die „Generallinie“ eignet sich (unter Einbezug aller verfügbaren Quellen) als weiterer Höhepunkt der Darstellung. Zumindest ist zu vermuten, dass, bedingt durch die widrigen Umstände der Verbannung und die weitreichende Isolation, letztlich der Überlebens- und Geltungswille Rakovskis bis dahin ungebrochenen Kampfgeist gegen das Regime übermannte.

Zu den gewandelten Umständen in den Jahren zwischen dem Abflauen des politischen Terrors 1932/1933 und dessen erneuter Verschärfung nach dem tödlichen Attentat auf den Leningrader Parteichef Sergej Kirov Ende 1934 gehörte, dass Zinovev und Kamenev im Herbst 1933 aus der zweiten Verbannung nach Moskau zurückkehren durften und im Dezember wieder in die Partei aufgenommen wurden. An dieser Stelle wäre mehr als nur ein kurzer Blick auf Bucharins Stellungnahmen in dem Überprüfungsverfahren gegen ihn Ende 1933 angebracht gewesen. Auf dem 17. Parteitag vom 26. Januar bis 10. Februar 1934, dem so genannten „Parteitag der Sieger“, durften dann eine ganze Reihe prominenter Oppositioneller, darunter Zinovev, Kamenev, Bucharin, Rykov, Tomskij und Karl Radek wieder mit Redebeiträgen auftreten.

Auf Initiative Stalins und durch Beschluss des Politbüros vom 20. Februar 1934 wurde Bucharin als Chefredakteur in die Regierungszeitung Izvestija berufen; ebenso gelangten Zinovev, Kamenev und andere wieder auf relativ einflussreiche Posten. Hedeler macht deutlich, dass Bucharin ebenso wie der in der Izvestija-Redaktion für die Auslandsberichterstattung zuständige Radek, der später, im Januar 1937, im Mittelpunkt des zweiten Moskauer Schauprozesses gegen ein angebliches „sowjetfeindliches trotzkistisches Zentrum“ stehen sollte, seitdem „am Gängelband von Stalin“ (S. 383) geführt wurde. Als Bucharin von Februar bis April 1936 an der Spitze einer Delegation stand, die in Paris über den Ankauf von Manuskripten aus dem SPD-Archiv, unter anderem des Marx-Nachlasses, verhandeln sollte, nutzte er die Chance zu emigrieren nicht. Stattdessen beteiligte er sich, wie Radek, an der Ausarbeitung des Entwurfs einer neuen Verfassung.

Bisher kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, aus welchen Motiven Rakovski unmittelbar nach dem Parteitag in einem Telegramm an das CK vom 17. Februar 1934 seine Unterwerfung unter die „Generallinie“ mitteilte; am 18. April druckte die Pravda eine reuige Erklärung von Ch. Rakovski, in deren Folge er nach Moskau zurückkehren und dort arbeiten durfte. Während des ersten Moskauer Schauprozesses gegen das angebliche „trotzkistisch-zinovevistische terroristische Zentrum“ vom 19. bis 24. August 1936 gegen Zinovev und Kamenev forderte Rakovski in der Pravda vom 21. August, keine Gnade gegenüber den „Trotzkisten-Agenten der deutschen Gestapo“ walten zu lassen. Auch Bucharin, der in diesem Prozess von verschiedener Seite belastet worden war, unterstützte Ende August in einem Brief an das Politbüromitglied Kliment Vorošilov die dort gefällten Todesurteile.

Während die Rakovski-Biographen im fünften und letzten Kapitel nicht übermäßig viel Licht in die Vorbereitung und Durchführung des dritten Schauprozesses und Rakovskis Rolle darin bringen, ist es ein Verdienst Hedelers, Bucharins (und auch Rakovskis) Verhalten in der Untersuchungshaft genauer zu beleuchten und Hinweise auf ihre „Geständnisse“ zu geben (S. 444 ff., 454 ff., zu Rakovski S. 462, 464–465). Anscheinend war es Rakovski, der Nikolaj Krestinskij zu Prozessbeginn dazu überredete, am Szenario festzuhalten (S. 508); nachdem die Reihenfolge der Befragung der Angeklagten kurzfristig geändert worden war, übernahm Bessonov die ihm zugewiesene Rolle als „Amalgam“ zwischen den „Trotzkisten“ (Rakovski) und „Rechten“ (Bucharin, Rykov).

Bucharin hörte auch nach seiner Verhaftung im Februar 1937 nicht auf, sich an Stalin persönlich zu wenden. Im Dezember, ein Vierteljahr vor dem Schauprozess, gab er in einem letzten Brief eine bezeichnende Erklärung für den „Großen Terror“: „Als ich über das, was vor sich geht, nachdachte“, schrieb Bucharin, habe er sich „etwa folgende Konzeption zurechtgelegt: Es existiert irgendeine große und kühne politische Idee einer generellen Säuberung a) im Zusammenhang mit einer Vorkriegszeit, b) im Zusammenhang mit dem Übergang zur Demokratie [sic! M.B.]. Diese Säuberung erfasst a) Schuldige, b) Verdächtige und c) potentielle Verdächtige. Dabei konnte man ohne mich nicht auskommen.“ (zit. nach Hedeler S. 529) Hervorhebungen von „entlarvenden“ Details in den Biographien der Angeklagten, wie bei Bessonov, hatten deren politische Verleumdung zum Ziel und deuten auf die symbolische Bedeutung des Prozesses, worauf auch die aufschlussreichen Bemerkungen Hedelers zum Prozess-Stenogramm verweisen (S. 502–509).

Am 13. März 1938 wurden Bucharin und Rykov zu Anführern des angeblichen „Blocks der Rechten und Trotzkisten“ erklärt und zusammen mit Krestinskij und 15 weiteren Angeklagten zum Tod durch Erschießen verurteilt; Rakovski erhielt eine Haftstrafe von 20 Jahren, Bessonov erhielt mit 15 Jahren die geringste in diesem Prozess verhängte Strafe. Die Todesurteile wurden am 15. März vollstreckt. Rakovski saß ab Juli 1938 im Gefängnis von Sol-Ileck südlich von Orenburg ein, ab August 1939 im Gefängnis von Orel. Als sich die Truppen der deutschen Wehrmacht näherten, wurden er und andere politische Häftlinge (wie Bessonov) am 11. September 1941 erschossen.

An mehreren Stellen tritt die Bucharin-Forschung noch immer auf der Stelle (Hedeler, S. 540). Gleiches gilt, wie Černjavskij im Vorwort anmerkt, für Rakovskis letzte Lebensjahre (S. 14). Dennoch zeigen die Biographien das große Erkenntnispotential biographischer Forschung, gerade auch im internationalen Zusammenhang. Auf der Makroebene werden mit Blick auf die neueste Stalinismusforschung vernachlässigte Fragen nach den Ursachen und Bedingungen der Gewalt sowie nach deren Warum und Wie und ihren genauen Formen diskutiert. Auf der Mikroebene interessieren wieder vermehrt einzelne Personen, Gruppen und Situationen. Auf dieser zweiten Ebene werden der Umgang des Individuums bzw. der Gruppe mit den Machtverhältnissen und der vorgegebenen Ordnung veranschaulicht und die Rückwirkungen der letzteren auf die Sprache des Einzelnen und der Gruppe verdeutlicht, d. h. es wird das „Innere des/der Menschen“ sozusagen nach Außen gekehrt. Dadurch offenbart sich das ganze Ausmaß der terroristischen Diktatur Stalinscher Prägung.

Matthias Bürgel, Oldenburg

Zitierweise: Matthias Bürgel über: Wladislaw Hedeler: Nikolai Bucharin – Stalins tragischer Opponent. Eine politische Biographie. Berlin: Matthes & Seitz, 2015. 638 S., 42 Abb. ISBN: 978-3-95757-018-5.Georgij Černjavskij / Michail Stančev / Maria Tortika (Lobanova): Žiznennyj put’ Christiana Rakovskogo 1873–1941. Evropeizm i bol’ševizm. Neokončennaja duėl’. Moskva: Centrpoligraf, 2014. 880 S., 1 Abb. ISBN: 978-5-227-05277-3., http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Buergel_SR_Innerbolschewistischer_Machtkampf.html (Datum des Seitenbesuchs)

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