Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Matthias Bürgel

 

Wendy Slater: The Many Deaths of Tsar Nicholas II. Relics, Remains and the Romanovs. London, New York: Routledge, 2007. 208 S. = Routledge Studies in the History of Russia and Eastern Europe. ISBN: 978-0-415-42797-5.

Helen Rappaport: Ekaterinburg. The Last Days of the Romanovs. New York: Windmill Books 2009. 272 S. ISBN: 978-0-099-52009-2.

Zum Schicksal des letzten russischen Zaren, Nikolaj II., sind zwei weitere Bücher erschienen. Beide versäumen es nicht, im Titel den Bezug zum Ende der Romanov-Dynastie herzustellen, schließlich ist die mühevolle Suche nach einer neuen Identität für Russland eng mit der Ermordung der Zarenfamilie und dem Kult um ihre Gebeine verbunden. Erst im Sommer 2007 sind unweit der Stelle, wo man sich der Leichen des ehemaligen Monarchen, seiner Gattin Aleksandra (geb. Prinzessin Alix von Hessen-Darmstadt) sowie ihrer Töchter Ol’ga, Tat’jana und Anastasija entledigt hatte, auch bis dahin noch fehlende Knochenteile vom Zarensohn Aleksej und seiner Schwester Marija gefunden worden. Mit ihrer Identifizierung ist der Fall – offiziell – abgeschlossen, im Zuge des Umwertungsprozesses der russischen Geschichte aber wirkt er fort.

Als Konsequenz der jahrzehntelangen Diskreditierung des alten Regimes und der zusätzlichen Belastung durch den Kriegseintritt, der zunächst nur den Sturz der Autokratie zur Folge hatte, aber mit der bolschewistischen Machtergreifung und dem anschließenden Bürgerkrieg zunehmend radikale Züge annahm, war der gewaltsame Tod der Zarenfamilie und von vier verbliebenen Bediensteten nur eine Randepisode. Tiefere Bedeutung erlangte er aber als Sinnbild für den Charakter des neuen Regimes (vgl. Manfred Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates. München 1998, S. 152; auch: Orlando Figes: Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russischen Revolution 1891–1924. Berlin 1998, S. 678).

Erste Berichte über die Ermordung der Zarenfamilie fallen in die Zeit nach dem überstandenen Bürgerkrieg. Den sowjetischen Bekundungen ist die Übertreibung der Gefahren, die von einer drohenden Flucht bzw. einer monarchistischen Konterrevolution (mit dem Exzaren als Symbolfigur) ausgegangen wären, deutlich anzumerken, während die Rekonstruktionen der Gegenseite, deren Anfänge noch in der Zeit der weißen Besetzung Ekaterinburgs (1918–1919) lagen, sich an allen realen und fiktiven Details der Bluttat weideten (für eine überblicksartige Zusammenstellung der Quellen aus dieser Zeit vgl. Nikolaus Katzer: Die weiße Bewegung in Russland. Herrschaftsbildung, praktische Politik und politische Programmatik im Bürgerkrieg. Köln u.a. 1999, S. 389ff.).

Es scheint plausibel, dass Stalin schon 1927 das Verfassen weiterer Erinnerungen von Zeitzeugen ausdrücklich abgelehnt haben soll (vgl. Slater, S. 44). Auch passt es in das Bild der weiteren gesellschaftlich-ideologischen Entwicklung in der Sowjet­union, dass der Ort des Geschehens, das Ipat’ev-Haus, benannt nach seinem ehemaligen Besitzer, dem Ingenieur Nikolaj Ipat’ev, der im Ural als Bauexperte arbeitete und dort seinen Wohnsitz und sein Büro hatte, während der gesamten Stalin- und Chruščëv-Ära mehrmals seinen Zweck wechselte und unter Brežnev – auf Veranlassung des Politbüros – 1977 abgerissen wurde.

Anfang der 1990er Jahre wurde an ebendieser Stelle ein Kreuz und später eine kleine Kapelle errichtet. Mit der Einweihung der – durch Spenden finanzierten – „Kathedrale auf dem Blut im Jahr 2003 verwandelte sich dieser Ort endgültig in eine Touristenattraktion und einen Wallfahrtsort für jeden russischen Gläubigen.

Wendy Slater erhebt nicht den Anspruch, das umfassend aufzuarbeiten, was in der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918 im Ipat’ev-Haus geschah.. Stattdessen konfrontiert sie den Leser im ersten Kapitel mit der Hinrichtung aus der Perspektive eines Mitglieds des Erschießungskommandos, und zwar in einer von ihr aus den vorhandenen Berichten konstruierten Variante. Im Anschluss an die Tat, d. h. bei Slater im zweiten Kapitel, führt uns die Autorin an die Stelle, wo man das Gros der mit Schwefelsäure verstümmelten Leichen vergraben hatte. Dem aufgespürten Grab entnahmen Anfang Juni 1979 ein Sverdlovsker Geologe und ein Moskauer Drehbuchautor einige verdächtige Skelettteile, die sie später aber wieder zurücklegten. Sie bewahrten ihr Geheimnis bis 1989; erst im Juli 1991 – unter Jelzin – exhumierte ein offiziell instruiertes Ausgrabungsteam die Knochen von neun Personen, deren Identität in genetischen Untersuchungen korrekt bestimmt wurde. Leider aber ist Slaters Band noch vor der Entdeckung der Knochenreste von Aleksej und Marija erschienen. Deshalb wirkt der hier referierte Streit darüber, welche Tochter fehle und das Massaker möglicherweise überlebt haben könnte (Marija oder doch Anastasija?), besonders skurril.

Die wechselseitige Interaktion von Wahrheit und Erfindung vor Augen, spricht Slater am Ende des dritten Kapitels über Konzeption und Zielsetzung ihres Bandes: Ausgehend von der Tatsache, dass kaum ein anderes Ereignis so gründlich durch Mythen verfälscht wurde, will sie, so die (späte) Erklärung ihres Titels, über die „vielen Tode“ Nikolajs II. Auskunft geben, ebenso wie über die „zahlreichen Leben“ nach seinem Tod (S. 58). Nicht, was sich damals im Einzelnen zugetragen habe, sei entscheidend, sondern die „Vieldeutigkeit“ (multiplicity) ein und desselben Ereignisses im Fortgang der Geschichte.

In weiteren Kapiteln kommen – im Kontext der Erschießung bzw. anschließenden Spurenbeseitigung – besonders drastische Verzerrungen zur Sprache. Zunächst thematisiert die Autorin den vor allem von Angehörigen der weißen Bewegung erfolgreich konstruierten Mythos, der ehemalige Zar sei Opfer eines jüdischen Ritualmordes bzw. einer Verschwörung geworden. In der seit 1990 einsetzenden Kanonisierungsdiskussion führte laut Slater schließlich der sentimentale Druck aus der Bevölkerung dazu, dass Nikolaj II. und seine Familie im August 2000 (wenn auch nicht als „Märtyrer, so doch als „Dulder bzw. „Blutzeugen“) heilig gesprochen wurden. Welche Rolle der ikonographische Romantisierungsprozess (Websites, Filme etc.) dabei spielte bzw. spielt, davon erfahren wir im letzten Kapitel.

Helen Rappaports Buch versteht sich als ein Beitrag zum Gedenken an die ermordete Zarenfamilie, der im Oktober 2006 mit einer Recherchereise nach Ekaterinburg begann. Ihre in einer kurzen Einführung verarbeiteten Kenntnisse von der historisch-kulturellen Entwicklung der Stadt (gegründet 1723) weisen keine gröberen Schnitzer auf (anders als bei Slater, die den alten Stadtnamen im Zusammenhang mit der Rückbenennung im Jahr 1991 auf Ekaterina II. (die „Große“) zurückführt).

Angesichts des Sättigungsgrades, den die Aufarbeitung dieses Themas mittlerweile erreicht hat, erschien es der Autorin sinnvoll, den Fokus auf die 13 letzten Tage der Zarenfamilie bis zu ihrer Exekution zu legen. Innerhalb ihrer verdichteten Erzählform, der ein zusätzliches Kapitel für die unmittelbare Zeit nach der Ankunft in Ekaterinburg vorangeht, widmet sie jedem dieser Tage ein eigenes Kapitel. Dies begründet Rappaport formal mit dem Wechsel des Wachregimes in den Verantwortungsbereich der Tscheka am 4. Juli; fraglich scheint allerdings, ob dieser Wechsel aus Sicht der Gefangenen (siehe Tagebucheinträge, Berichte der Wächter etc.) eine ebenso große Rolle spielte.

Die Beschreibung der alltäglichen Routine und des stillen Leidens der ehemaligen imperialen Familie in ihrem Ekaterinburger Gefängnis verknüpft die Verfasserin geschickt mit der sich zuspitzenden militärischen Lage (der bevorstehenden Einnahme der Stadt durch weiße Truppen). Gerade der Kontrast zwischen äußerem Chaos und relativer Monotonie im Inneren steigert die Wahrnehmung für das, was in der Nacht zum 17. Juli im Keller des Ipat’ev-Hauses über die Gefangenen hereinbrechen sollte.

Rappaports schonungslose Schilderung des Massakers wird durch ihren detaillierten Bericht vom Umgang mit den elf Leichnamen sogar noch übertroffen: Zunächst die Entsorgung in einen Schacht, der sich im Nachhinein als zu klein erwies, was – in der darauffolgenden Nacht – eine in ihrer Groteskheit kaum zu überbietende Bergungsaktion nach sich zog. Als – in der Nacht zum 19. Juli – der Abtransport zu einem größeren Schacht endgültig scheiterte, weil der LKW auf halber Strecke stecken blieb, wurde entschieden, die Leichen an Ort und Stelle zu vergraben. Zwei Leichnahme (die von Aleksej und Marija [als vermeintlicher Aleksandra?]) wurden erst verbrannt und dann ebenfalls vergraben.

In einem Epilog streift auch Rappaport einige der publizistischen, von den Maßnahmen zu seiner Verschleierung provozierten ‚Blüten‘ von der Tat. Darüber hinaus berichtet sie über die weitere Stadtentwicklung und die von der russisch-orthodoxen Kirche zu einem Kloster und einer weiteren Touristenattraktion ausgebaute „letzte“ Ruhestätte (in diesem Fall den Schacht, der die toten Körper eine kurze Zeit lang beherbergte).

Beide Bücher sind mit einer umfangreichen Bibliographie und einem Register ausgestattet, was sie als Arbeiten mit wissenschaftlichem Anspruch qualifiziert. Slater läuft durch ihren halb-fiktionalen, halb-authentischen Einstieg Gefahr, statt Aufklärung über die oft kruden Spekulationen rund um den Zarenmord gleich wieder neue zu schaffen. Ihre ohnehin etwas konfus angeordneten Kapitel formen sich nicht zu einem runden Ganzen.

Wer ist verantwortlich für die spätere, bis heute andauernde Überhöhung des Ereignisses? War es tatsächlich nur die Heimlichtuerei vor Ort, das Unkenntlich-Machen und Verscharren der Leichen, sowie die von Moskau aus verbreitete Lüge, dass nur der Zar hingerichtet worden sei, Frau und Sohn sich aber an einem sicheren Ort befänden? So einleuchtend ihre Theorie von der „Miscalculating history“ (S. 152) auch klingen mag, so neigt Slater doch dazu, die aus heutiger Perspektive nur noch schwer nachvollziehbaren Zwänge von damals zu übergehen (selbst Trotzki sprach noch 1935 im französischen Exil davon, dass die Liquidierung der Zarenfamilie ebenso zweckmäßig wie notwendig gewesen sei, womit er vor allem eine vollständige Mobilisierung aller Kräfte für den Bürgerkrieg meinte). Es erübrige sich, so Slaters Fazit, die Vorteile aufzuzeigen, die ein öffentliches Gerichtsverfahren (mit Trotzki als Ankläger) gehabt hätte. Nicht mit der Aktion als solcher, sondern mit der gewählten Form, so ihre Schlussfolgerung, begingen die Bolschewiki einen schweren „strategischen Fehler“ (S. 156).

Rappaport rekonstruiert die letzten Tage der Romanovs in Ekaterinburg – ohne sie zu einem Martyrium zu verklären. Die aus dem Bürgerkrieg resultierende Verschärfung der Lage rechtfertigt ihre zugespitzte Präsentation des Geschehens. In Einklang mit der neuesten Forschung zu den Anfängen des bolschewistischen Regimes und seiner Fortführung durch Stalin ordnet die Autorin – in ihrem Epilog – die Ereignisse in Ekaterinburg in den globalgeschichtlichen Kontext ein und deutet sie – mit Blick auf das Schicksal anderer Mitglieder des Hauses Romanov in Perm’ und Alapaevsk sowie in Petrograd – als Wendepunkt in der Geschichte des 20. Jahrhunderts (hin zur Praxis der systematischen Vernichtung nach Klasse- bzw. Rassekriterien).

Matthias Bürgel, Oldenburg

Zitierweise: Matthias Bürgel über: Wendy Slater: The Many Deaths of Tsar Nicholas II. Relics, Remains and the Romanovs. London, New York: Routledge, 2007. 208 S. = Routledge Studies in the History of Russia and Eastern Europe. ISBN: 978-0-415-42797-5.Helen Rappaport: Ekaterinburg. The Last Days of the Romanovs. New York: Windmill Books 2009. 272 S. ISBN: 978-0-099-52009-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Buergel_SR_Ermordung_der_Romanovs_1918.html (Datum des Seitenbesuchs)

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