Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Klaus Buchenau

 

Eckehard Pistrick / Nicola Scaldaferri / Gretel Schwörer (Hrsg.): Audiovisual Media and Identity Issues in Southeastern Europe. Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing, 2011. IX, 325 S., Abb.. = . ISBN: 978-1-4438-2930-4.

Die Schrift hat seit der Erfindung von Fotografie, Film und Schallplatte viel von ihrer überragenden Stellung als Wissensspeicher eingebüßt; gegenwärtig treiben Digitalkameras und Smartphones diese Entwicklung auf neue Höhen. Die Geistes- und Sozialwissenschaften reagieren zwiespältig – teils mit Ablehnung, teils mit Ausdifferenzierung in eher schrift- und eher medienorientierte Sparten. Die Anthropologie als gegenwartsorientierte Disziplin ist hier fraglos weiter als die Geschichtswissenschaft. Sie sammelte audiovisuelle Daten, sobald die Technik dies zuließ; außerdem war sie von Beginn an sensibel für den nicht-schriftlichen Selbstausdruck der untersuchten Kulturen. Dennoch gibt es auch hier eine Tradition, Ethnographie als „written discourse“ (S. 15) aufzufassen, wie Nikola Scaldaferri in seinen theoretischen Reflexionen kritisiert.

Scaldaferri und seine Mitherausgeber Eckehard Pistrick und Gretel Schwörer wollen daher erkunden, wie Feldforscher und Beforschte audiovisuelle Medien zur Konstruktion von Identitäten nutzen bzw. in der Vergangenheit genutzt haben (S. 2). Damit hinterfragen sie einerseits in guter anthropologischer Tradition den konventionellen Blick auf das „Volk“, das von wissenschaftlichen wie politischen Eliten häufig von oben herab homogenisiert, kategorisiert und auf eine bestimmte Identität festgelegt wird. Andererseits betonen sie, dass audiovisuelle Aufnahmen immer mehr zu einem Instrument in der Hand von Alltagsmenschen werden, die sich auf diese Weise ein Stück Deutungshoheit über ihre Identität zurückholen. Wie Eckehard Pistrick einleitend schreibt, soll der Band den Blick weglenken von der in Geschichts- und Politikwissenschaft beheimateten Makroperspektive hin zu komplementären Mikroperspektiven, weg von den bekannten Großnarrativen über Südosteuropa und hin zu einer reflexiven Sicht, die Mikro- und Makro-, Binnen- und Außenperspektiven zusammenbringt (S. 5).

Diesen Anspruch löst das Werk im Wesentlichen auch ein. Die insgesamt 18 Beiträge sind überwiegend von guter Qualität, und obwohl die zu grobe inhaltliche Aufgliederung des Bandes in zwei Teile (I: The Field, the Senses and the Media; II: Constructing Southeastern Europe through Sounds and Images) nur wenig Orientierung stiftet, so gibt es doch starke inhaltliche Verbindungen, so dass die bei Sammelband-Lektüren häufige Sehnsucht nach mehr inhaltlicher Kohärenz kaum aufkommt – die großen Linien erschließen sich leicht.

Ein wichtiges Thema ist die staatliche Vermachtung von Klängen und Bildern. In diese Richtung geht der empirisch dichte Text von Christian Marchetti über die Albanien-Expedition des österreichischen Volkskundlers Arthur Haberland während es Ersten Weltkriegs. Haberland glaubte an die „Objektivität“ von Fotografien und machte sich gleichzeitig an den bildlichen Nachweis, dass die Integration bestimmter Territorien in die Habsburgermonarchie durch tiefe Kultureinflüsse aus dem Norden gerechtfertigt sei. Aris Anagnostopoulos zeigt anhand von Fotografien der kretischen Hauptstadt Iraklio zu Anfang des 20. Jahrhunderts, wie sehr politische Ordnungsvorstellungen den Blickwinkel der Fotografen bestimmen können. Als Kreta 1898 internationales Protektorat wurde, verbreiteten lokale Postkarten-Fotografen die Vision einer aufgeräumten, auf ihr politisches Machtzentrum ausgerichteten Stadt und blendeten das „wuselige“ Erbe der osmanischen Mahalas systematisch aus. Besonders intensiv vermachtet waren Familienfotografien im sozialistischen Albanien, wie Gilles De Rapper und Anouck Durand in ihrem sorgfältig recherchierten Artikel zeigen. Private Fotoapparate waren selten, die staatlichen Fotografie wurde strikt hierarchisch organisiert und auch kontrolliert – im Verein mit ideologischen Vorgaben verengte sich der Darstellungskanon privater Fotoalben extrem.

Mit größerer Nähe zur Gegenwart wird aus der audiovisuellen Vermachtung tendenziell ein Graswurzel-Phänomen. Wie sehr sich der Umgang mit Bildern seit dem Ende des Sozialismus gewandelt hat, zeigt Eckehard Pistrick am Beispiel Südalbaniens. Als eine deutsch-albanische Expedition 1957 das musikalische Erbe der Region dokumentieren wollte, nahm man wenig Rücksicht auf die Befindlichkeiten der Bevölkerung, sondern ließ Sänger aus entlegenen Dörfern herbeichauffieren, setzte sie vor einschüchternde Aufnahmegeräte und erwartete, auf diese Weise „authentisches“ Material in bester Tonqualität zu erhalten. Als Pistrick selbst 2008 in die Region reiste, zückte nicht mehr der Fremde, sondern der einheimische Informant zuerst die Kamera, um damit das internationale Interesse an der lokalen Kulturtradition zu dokumentieren. Aus einer fremden Technik in der Hand von Eliten ist damit auch ein Instrument zur Selbstdarstellung und Selbstvermarktung geworden.

Das zeigen auch andere Beiträge zu südosteuropäischen Gegenwart. Panayotis Pano­poulos macht deutlich, wie private Videoaufnahmen des Karnevals im griechischen Dorf Skyros das Ereignis aus sehr persönlichen Blickwinkeln darstellen und damit auch die Repräsentation im griechischen Staatsfernsehen unterlaufen. Filippo Bonini Baraldi berichtet, wie er in der zentralrumänischen Romagemeinde Ceuaş von Dorfbewohnerinnen aufgefordert wurde zu filmen, welche von ihnen bei Begräbnissen am meisten weine – auch um gegenüber der Außenwelt die besondere Pietät der Roma nachzuweisen. And­reas Hemming schließlich illustriert, wie Photoshop den Menschen in der nordalbanischen Region Mirdita ungeahnte Möglichkeiten visueller Selbstkonstruktion eröffnet – sei es, indem man Köpfe vertauscht, Schwarz-Weiß-Fotos nach eigenem Gusto koloriert oder den Urgroßvater nachträglich in einen modischen Anzug steckt (S. 266).

Kreativität spielt auch bei einer Ausstellung über den griechischen Bürgerkrieg im Dorf Kefalochori eine Rolle, über die Antonio Maria Pusceddu schreibt. Die Erinnerung an den Bürgerkrieg ist nach wie vor kontrovers und taugt wenig zur lokalen Sinnstiftung – worauf die Organisatoren mit einer Teilung der Ausstellung in einen politischen und einen ethnografischen Abschnitt antworten. Ersterer wendet die staatliche Geschichtspolitik des moralischen „Proporzes“ zwischen den Bürgerkriegsparteien auf die lokale Ebene an, letzterer sorgt mit einer Idyllisierung des Hirtenlebens für ein beruhigendes Gefühl von Harmonie und Kontinuität.

Auch beim Thema Volksmusik orientieren sich die Beiträge an der Frage, ob es hier eher um verordnete Identitätspolitik oder um lokalen Selbstausdruck geht. Marica Rom­bou-Levidi belegt in ihrer Studie zu einem Volkstanz-Ereignis in Griechisch-Makedonien, dass die slawische Minderheit sich äußerlich den Vorgaben der griechischen Kulturpolitik fügt, ehemals slawische Stücke auf Griechisch vorträgt und dabei behauptet, man habe sie schon immer auf Griechisch gesungen. Gleichzeitig werden die slawischen Originale mitunter besser beherrscht und auch freier vorgetragen, allerdings nur in der intimen Binnenkommunikation. Yves Defrance zeigt durch seinen Vergleich zwischen bulgarischen und korsischen Volksmusik-CDs, dass staatliche Kulturpolitik hier in sehr unterschiedlicher Weise gewirkt hat – während sich das sozialistische Bulgarien systematisch der Volksmusik annahm, sie „standardisierte“, Chorsänger klassisch ausbildete, moderne Arrangements schuf und die so entstandene Hybridform international vermarktete, blieb die korsische Minderheit innerhalb Frankreichs auf sich gestellt, was sich negativ auf den Ressourcenzugang, aber positiv auf die Ursprünglichkeit auswirkte. An diesen Punkt schließt sich Veselka Toncheva an, wenn sie die Einmischung des bulgarischen Staatsfernsehens in die Folkloreproduktion kritisiert – als Einebnung lokaler Besonderheiten und als pseudo-authentische Konstruktion nationalen Wesens. Wie so oft wirkt hier der jugoslawische Weg ‚sympathischer‘. Ana Hofman zeigt in ihrem starken Text über ein Festival im slowenischen Zwischenmurgebiet, dass Folklore im sozialistischen Jugoslawien mehr war als ein von oben erdachtes, propagandistisches Projekt. Sie betont die Rolle lokaler Akteure und skizziert einen spezifisch jugoslawischen Umgang, welcher der Folklore ihren lokalen Zusammenhang und ihre lokale Dynamik beließ.

Wenn den Historiker etwas an diesem anthropologischen Sammelband stört, sind es die gelegentlichen Entgrenzungen zwischen Beobachter und Gegenstand. Zweifellos müssen sich Feldforscher tief auf Situationen vor Ort einlassen – aber dann auch wieder Abstand finden, um die Ergebnisse angemessen reflektieren zu können. Dieses Problem erscheint bei Eran Livni nicht gut gelöst. Er schreibt durchaus interessant über ein Roma-Festival im bulgarischen Stara Zagora, widmet sich dann aber ganz der Kritik eines lokalen Aktivisten, weil dieser lieber sittsam sitzendes als entgrenzt tanzendes, „orientalisch“ wirkendes Publikum fotografiert sehen will. Quasi in Fortsetzung eines Streitgesprächs aus dem Feld moniert Livni, der Roma-Funktionär unterwerfe sich auf diese Weise dem herrschenden Diskurs über Roma in Bulgarien – wo doch selbst Livnis eigene Fotos dokumentieren, dass offenbar die große Mehrheit des Publikums gediegen auf Stühlen sitzt wie bei einem klassischen Konzert. Sehr in ihr Thema involviert sind auch die Sozialwissenschaftler Daniel Šuber und Slobodan Karamanić. Sie vertreten die These, dass das politische Establishment in Serbien sich seit dem Sturz Miloševićs im Jahr 2000 inhaltlich wie ikonographisch auf die Nationalisten und Rechtsradikalen zubewegt habe. Problematisch ist weniger der damit implizierte Vorwurf an die etablierten Parteien des Landes, sondern die Leichtfertigkeit in der Empirie, die auf eine kämpferisch-vorgefasste Meinung schließen lässt. Zum ‚Beweis‘ ihrer These wählen die Autoren unter mehr als 1000 Umbenennungen von Belgrader Straßen ganze acht aus, von denen sich fünf auf serbische Monarchen beziehen und damit noch nicht einmal zwangsläufig als ‚nationalistisch‘, sondern auch als Verweis auf eine Staatstradition gedeutet werden können. Auch sonst nehmen sie es mit Daten nicht sehr genau – etwa wenn sie das Wirken des kroatisch-slowenischen Bauernführers Matija Gubec vom 16. in das 19. Jahrhundert verlegen.

Ein eigenwilliges Entgrenzungsphänomen ist schließlich der Text der serbischen politischen Aktivistin Nela Milic. Sie stellt ihr multimediales Archiv des Widerstands gegen Milošević vor und bejaht ganz bewusst die Einheit von politischer Teilnahme, Datensammlung, Analyse und künstlerischem Schaffen – was sie alles selbst durchführen will. Wo das eine beginnt und das andere aufhört, ist überhaupt nicht mehr zu erkennen und interessiert die Autorin auch nicht. Wer mit dem radikalen Poststrukturalisten Jean Baudrillard alle Phänomene und damit auch Archive als „vollkommen gasförmig“ (S. 314) deklariert, hat damit selbstverständlich keine Probleme. Sofern aber begriffliche Klarheit eine Grundlage von Wissenschaft bleiben soll, ist dieser Ansatz sehr problematisch, allen pseudo-informierten Phrasen wie „fluidity of memory“ oder „postcolonial and subaltern voices“ zum Trotz. Unerfreulich ist auch Lorenzo Ferrarinis Porträt einer serbischen Musikerfamilie. Hier fällt das Missverhältnis zwischen ausführlichen theoretischen Postulaten und empirischer Dürre auf, die nicht zuletzt daher rührt, dass Ferrarini weder die notwendige Zeit noch die notwendigen Sprachkenntnisse für eine Feldforschung mitbrachte.

Dem insgesamt erfreulichen Gesamtbild des Bandes können diese Schattenseiten aber nichts anhaben.

Klaus Buchenau, Regensburg

Zitierweise: Klaus Buchenau über: Eckehard Pistrick / Nicola Scaldaferri / Gretel Schwörer (Hrsg.): Audiovisual Media and Identity Issues in Southeastern Europe. Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing, 2011. IX, 325 S., Abb.. = . ISBN: 978-1-4438-2930-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Buchenau_Pistrick_Media_Identity_Southeastern_Europe.html (Datum des Seitenbesuchs)

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