Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Klaus Buchenau

 

Ina Merdjanova: Rediscovering the Umma. Muslims in the Balkans between Nationalism and Transnationalism. Oxford, New York: Oxford University Press, 2013. XVI, 198 S., 1 Kte. ISBN: 978-0-19-996403-1.

Die Literatur über Muslime in Südosteuropa ist seit den 1990er Jahren stetig angeschwollen. Sie blieb allerdings zersplittert – die meisten Autoren beschäftigen sich mit nur einem Land oder einer muslimischen Gruppe, wobei sich das Gros der Energie bislang auf die bosnischen Muslime gerichtet hat, danach auf den albanophonen Islam, weniger auf Türken oder Pomaken in Bulgarien oder gar auf die Muslime in der rumänischen Dobrudscha. Eine komparativ vorgehende Monographie über Südosteuropas Muslime insgesamt ist daher hochwillkommen, um so mehr wenn sie kurz, bündig und verständlich geschrieben ist wie die vorliegende. Die Autorin Ina Merdjanova, gebürtige Bulgarin und Mitarbeiterin an der Irish School of Ecumenics in Dublin, gehört zu den profilierten Religionsforscherinnen. In früheren Publikationen hat sie sich vor allem mit dem Zusammenhang von Religion und Nationalismus sowie mit interreligiösen Dialogen in Südosteuropa auseinandergesetzt.

Am meisten wird dieses Werk zweifellos Einsteigern in die Thematik nutzen. Sie profitieren von einem historischen Überblick über die Geschichte des Islams in Südosteuropa und den knappen Profilen einzelner muslimischer Gruppen. Auch Merdjanova behandelt sie nicht alle, sondern konzentriert sich auf Bosnjaken, Albaner, Türken und Pomaken, wogegen sich zu weniger konsolidierten Gruppen wie Roma, Torbeschen, Goranen usw. wenig oder nichts findet. Wer sich bereits besser mit dem Thema auskennt, wird bei Merdjanova kaum Neues entdecken. Denn ihr Buch basiert großenteils auf – allerdings aktueller und solide aufgearbeiteter – Sekundärliteratur, nur zu einem kleineren Teil auf eigenen Feldbeobachtungen und Interviews. Dass auch Experten das Buch mit Gewinn lesen können, liegt vor allem an seiner klaren These und Argumentation. Merdjanovas Ausgangspunkt ist die westliche Angst vor ‚dem‘ Islam, vor Fundamentalismus und Terrorismus, welche sich oft undifferenziert auf die gesamte muslimische Welt bezieht. Merdjanova kritisiert dieses Pauschalurteil, wendet sich ‚ihren‘ Gruppen zu und gibt deutlich Entwarnung: In Südosteuropa haben wir es mit Muslimen zu tun,

1. die auf ihre autochthonen Erfahrungen pochen und nicht leicht von zugereisten Radikalen und Propheten eines antiwestlichen „Weltislams“ zu beeinflussen sind;

2. die historisch geprägt sind vom jahrhundertelangen Zusammenleben mit Christen;

3. die in hohem Maße ältere volksreligiöse Praktiken inkorporiert haben, was ihre Individualität verstärkt;

4. bei denen reformistische Interpretationen des Islam traditionell stark sind (S. 122).

Ihr Argument entfaltet Merdjanova über vier Kapitel. Im ersten über Islam and National Identities in the Balkans zeigt sie, dass sich balkanmuslimische Identitäten seit dem 19. Jahrhundert vor allem ethnisierten, wodurch das islamische Gemeinschaftsgefühl abnahm. Dies war meist im Interesse der christlichen Mehrheit, welche den Zusammenhalt der Muslime schwächen wollte, wurde aber teilweise auch von muslimischen Eliten selbst vorangetrieben, z.B. von türkischen Kemalisten oder von albanischen Nationalisten. Die sehr unterschiedlichen Konstellationen von Nation und Religion und die ererbten religiösen Gräben innerhalb des Islams taten ein übriges – albanische „Sprachnation“ und bosnjakische „Konfessionsnation“ gingen ganz unterschiedliche Wege; albanische Sunniten und albanische Bektashis ebenfalls. Die historischen Voraussetzungen für ein Wir-Gefühl der Balkanmuslime waren also eher ungünstig.

Die Folgen demonstriert Merdjanova im zweiten Kapitel Muslim Transnationalism and the Reclaiming of ‚Balkan Islam‘. Nach dem Fall des Kommunismus stand der Kontaktaufnahme mit der Umma, der weltweiten Gemeinschaft islamischer Gläubiger, nichts mehr im Weg, und es gab auch gute Gründe, diese Verbindungen zu intensivieren. Wie die Region insgesamt litten auch die Muslime an einem Wertevakuum, an materiellem und kulturellem Mangel, in Bosnien und in Kosovo wurden sie Opfer von Massengewalt. All dies verwies die Balkanmuslime auf islamische Kernstaaten wie Ägypten oder Pakistan, aber auch auf die teilweise re-islamisierte Türkei. Die Umma enttäuschte die Erwartung nicht, sandte Geld, humanitäre Hilfe, islamische NGOs und nicht zuletzt Freischärler, die vor allem in Bosnien einen „heiligen Krieg“ kämpften. Eine Zeitlang mochte es so aussehen, als könne das in eine dauerhafte Verbindung der Bosnjaken mit einem radikalen, globalisierten Islam führen – aber nach Ende der Kriege und insbesondere seit den Attentaten des 11. September 2001 gingen die Balkanmuslime zunehmend auf Distanz zu ihren Glaubensbrüdern, denen man jetzt Ignoranz und Nichtachtung lokaler Traditionen vorwarf und deren Präsenz auch politisch zunehmend inopportun erschien. Stattdessen besann man sich auf den autochthonen, mit der europäischen Integration kompatibleren Islam.

Das dritte Kapitel über Islam and women in the Balkans setzt diesen Gedankengang fort und kommt zu dem Schluss, dass balkanmuslimische Frauen trotz der offensichtlichen Retraditionalisierung der Genderrollen keine unterdrückte Minderheit sind und daher nicht dem stereotypen westlichen Bild von Frauen im Islam entsprechen. Die teilweise Rückkehr der Kopftücher, die Reaffirmierung der Mutterrolle hat Merdjanova bei Interviews und Feldbeobachtungen keineswegs als Fremdsteuerung durch ein vermeintlich wiedererrichtetes „Patriarchat“ wahrgenommen, sondern durchaus auch als Wahl der Frauen selbst (S. 99).

Das vierte und letzte Kapitel Balkan Muslims and the Discourse on a „European Islam“ öffnet sich schließlich zur breiteren Islamdebatte. Zu Recht verweist Merdjanova darauf, dass das eigentliche Integrationsproblem in Westeuropa bestehe, nicht aber in Südosteuropa, wo die Muslime lang etablierte Kontakte in die Mehrheitsgesellschaft und eigene Institutionen haben, wo sie politisch wie kulturell repräsentiert sind. Merdjanova liefert einen luziden Überblick über den Euro-Islamdiskurs, wobei sie sich von all jenen distanziert, die das islamische Selbstverständnisses durch äußere Vorgaben neu ordnen wollen. Stattdessen verweist sie vorsichtig optimistisch auf islamische Theologen, die Europa nicht länger als „Haus des Krieges“ auffassen. Europa rät sie, es solle sich nicht essenzialistisch und exklusiv definieren, sondern sich als kosmopolitisch-pluralistisches Experiment begreifen (S. 116). Merdjanova bedauert, dass islamische Theologen vom Balkan in dieser Debatte bislang kaum wahrgenommen werden – zwar könne man die Erfahrung südosteuropäischer Muslime nicht übertragen, aber doch von ihr lernen (S. 125).

So weit, so gut. Um noch besser zu werden, hätten das Buch wohl etwas länger ausfallen müssen. Wer die Muslime auf dem Balkan profilieren will, tut gut daran, sich auch den Islam außerhalb der Region anzuschauen. Was können wir über die Besonderheiten des Balkanislams sagen, wenn die anderen Muslime nur schemenhaft, in Form eines entterritorialisierten und mehr oder weniger fundamentalistischen Umma-Islams auftauchen? Hier wäre ein weiterer Blick von Vorteil gewesen. So aber bleibt offen, ob die islamischen NGOs und Gotteskrieger, die in den 1990er Jahren aus der islamischen Welt auf den Balkan strömten, für einen „arabischen“ oder einen „indo-pakistanischen“ Islam stehen, der sich dann entsprechend vom „Balkanislam“ unterscheidet – oder ob diese Akteure ihrerseits die Verwurzelung in ihren traditionellen religiösen Milieus verloren hatten. In ihrer jetzigen Form lässt Merdjanovas Argumentation jedenfalls die Frage unbeantwortet, ob die Muslime auf dem Balkan wirklich so besonders sind oder ob sie vielleicht doch manches mit anderen traditionellen Islamformen, und sei es auch in Pakistan, gemeinsam haben.

Wenig sagt Merdjanova auch über die christliche Umgebung auf dem Balkan. Ihre Argumentation legt nahe, dass die Tendenz der Muslime zu Ethnisierung und Partikularismus in erster Linie auf reale sprachliche und religiöse Differenzen sowie auf Divide et impera-Strategien der christlichen (und dann kommunistischen) Balkanstaaten zurückgehen. Aber vielleicht ist es genauso plausibel, die Nationalisierung als Übertragungseffekt zu begreifen, als Übernahme von Denkmustern der orthodoxen Mehrheit, die ihre Kirche ja in der Regel als National-Religion versteht? Hier erscheint Merdjanovas Blick mitunter zu sehr verengt, zu wenig suchend. So sind die großen Stärken des Buches – Knappheit und argumentative Klarheit – gleichzeitig seine Schwächen: Es fehlt der Raum, um Gegenfragen zu stellen. Sichtbar ist das noch an weiteren Stellen; hier sei nur Merdjanovas Umgang mit der „Partei der demokratischen Aktion“ (SDA) erwähnt, um die sich die Bosnjaken in den frühen 90er Jahren scharten. Merdjanova sieht die Neigung der SDA zum radikalen Umma-Islam durchaus, relativiert sie aber als taktisch motiviert – mit anderen Worten, die SDA beschwor heiligen Krieg und islamische Solidarität, um auf diese Weise Unterstützung in der islamischen Welt zu mobilisieren (S. 58). Eine gründlichere Argumentation hätte stärker abgewogen, verschiedene Flügel in der Partei erwähnt und nicht zuletzt auch die Islamische Deklaration des Parteiführers und Präsidenten Alija Izetbegović mit einbezogen. Vermutlich wäre Merdjanovas Argument am Ende ähnlich ausgefallen, nur eben transparenter – und damit noch überzeugender.

Klaus Buchenau, Regensburg

Zitierweise: Klaus Buchenau über: Ina Merdjanova: Rediscovering the Umma. Muslims in the Balkans between Nationalism and Transnationalism. Oxford, New York: Oxford University Press, 2013. XVI, 198 S., 1 Kte. ISBN: 978-0-19-996403-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Buchenau_Merdjanova_Rediscovering_the_Umma.html (Datum des Seitenbesuchs)

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