Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews (2017), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Erich Bryner

 

Alexander Kyrleschew: Die russische Orthodoxie nach dem Kommunismus. Das byzantinische Erbe und die Moderne. Herne: Schäfer, 2014. 467 S. = Studien zur Kirchengeschichte und Theologie, 9. ISBN: 978-3-944487-16-8.

Inhaltsverzeichnis:

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Der russisch-orthodoxe Theologe und Publizist Alexander Kyrleschew (geb. 1957) legt in dieser Aufsatzsammlung 25 Arbeiten aus den Jahren 1993 bis 2010 über die Lage und die inneren Probleme der russisch-orthodoxen Kirche in postsowjetischer Zeit vor. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 stand die russisch-orthodoxe Kirche vor der Aufgabe, eine neue Identität in einer neuen liberal-demokratisch und säkular geprägten Gesellschaft mit ihrem Individualismus und Pluralismus, ihrer neu errungenen Religionsfreiheit und der konsequenten Trennung von Staat und Kirche zu finden und der intensiven Nachfrage nach den Inhalten der Religion in der Bevölkerung Rechnung zu tragen. In seinen tiefgründigen und differenzierten Analysen zeigt der Verfasser den schwierigen Weg der Kirche zwischen Traditionalismus und Moderne auf und weist energisch auf erhebliche Defizite.

Zu den problematischen Entwicklungen zählt der Verfasser vor allem die starke Zunahme von traditionalistischen und nationalistischen Strömungen in der russisch-orthodoxen Kirche in jüngster Zeit. Die Sowjetunion hatte während sieben Jahrzehnten Religion und Kirche scharf bekämpft, sie zeitweise auszurotten versucht und ist damit gescheitert. Die Nachfrage nach religiösen Werten, theologischen Erkenntnissen, spiritueller Praxis und sozialethischen Konsequenzen im kirchlichen Handeln ist seit den letzten Jahren der Sowjetzeit und insbesondere in der Perestrojka sprunghaft angestiegen. Nach Kyrleschew besteht die große Schwäche des Moskauer Patriarchats heute darin, dass es die Vergangenheit zu stark verklärt, politisch rechtsstehende, starr traditionalistische und nationalpatriotische Grundlinien vertritt und es an dynamischer, schöpferischer Neuorientierung, wie es einer modernen, postsowjetischen Gesellschaft entsprechen würde, fehlen lässt. Bereits in einem 1994 erschienenen Aufsatz stellte Kyrleschew fest, dass die religiöse Wiedergeburt, die viele erwarteten, ausgeblieben ist. Kirchenleitung und Klerus blieben im Rituellen, in einer weltfremden klösterlichen Askese und in einem orthodoxen Nationalismus stecken. Erneuerung, kritisches theologisches Denken, Reformen und ein „ganzheitliches Kirchenbewusstsein“ wurden blockiert. Die Kirche steht „rechts“, orientiert sich an den Idealen einer vormodernen Zeit und an nostalgischen Sehnsüchten und pflegt außerdem einen autoritären Führungsstil. „Links“ und „liberal“ wendet sich ab. Unter „liberal“ versteht Kyrleschew eine Grundhaltung geistiger Freiheit, in der die kirchliche Realität im Rahmen der Tradition schöpferisch gestaltet wird. In den Grundgedanken des deutschen Theologen Dietrich Bonhoeffer von der „mündigen Welt“, vom „religionslosen Christentum“, von der „nichtreligiösen Interpretation biblischer Begriffe“ und der „tiefen Diesseitigkeit des Christentums“ (so Bonhoeffer in seinen Briefen aus dem Berliner Gefängnis von 1944) sieht er vielversprechende Ansatzpunkte, die von der Orthodoxie bis jetzt übersehen wurden. Stattdessen ist aus der Orthodoxie eine nationalpatriotische Ideologie geworden. Doch Ideologie und Christentum sind nicht kompatibel, führt Kyrleschew aus.

Große Stücke hält der Verfasser auf die Theologie der russischen Diaspora im 20. Jahrhundert. In Paris und in den USA wirkten die besten theologischen Köpfe, die nach der bolschewistischen Revolution Russland verließen und im Kontext der westlichen Philosophie und Kultur das theologische Denken, die Askese, das liturgische Handeln und die mystische Gotteserfahrung neu durchdachten und schöpferisch weiterentwickelten. Mehrere Aufsätze handeln von den Hauptvertretern der russischen Orthodoxie im Westen, einer von ihnen von der Geschichte der „Russischen christlichen Studentenbewegung“ und dem theologischen Institut Saint-Serge in der Pariser Emigration mit ihren hervorragenden Theologen wie dem Dogmatiker Sergej Bulgakov, dem Religionsphilosophen Vasilij Zenkovskij, dem Neutestamentler Kassian Bezobrazov, dem Theologiehistoriker Georgij Florovskij und anderen. Für sie ist die orthodoxe Kirche in erster Linie eine universale und erst in zweiter Linie eine nationale Kirche. Offenheit für andere Bekenntnisse, Dialog und Zusammenarbeit mit ihnen ist für die Orthodoxie konstitutiv, Achtung der persönlichen Freiheit des einzelnen Christen von hoher Bedeutung. Kompromisse des christlichen Glaubens mit dem atheistischen Kommunismus und mit extremen Formen von Nationalismus sind nicht möglich, dafür aber eine intensive Aufnahme und Verarbeitung der modernen wissenschaftlichen Erkenntnisse. Kyrleschew kritisiert, dass die heutige russisch-orthodoxe Kirche gerade mit diesen Prinzipien ausgesprochen Mühe hat.  Wegweisend auch für die heutige Orthodoxie ist für ihn ferner die klare Unterscheidung von Tradition und Traditionen, wie sie Alexander Schmemann (1921–1983), der jahrzehntelang im Seminar St. Vladimir in New York wirkte, konzipiert hat: Tradition ist die jahrhundertelange geistliche Erfahrung der Kirche, die dynamisch weiter gedacht werden muss; Traditionen sind die festgefahrenen Ideen und Bräuche, die zum leblosen Traditionalismus wurden. Die heutige russische Kirche sollte sich, fordert Kyrleschew, von ihrem „fundamentalistischen Komplex“, ihrem Isolationismus und ihrer Ängstlichkeit befreien, sich dem Dialog mit der Moderne stellen, in der Begegnung mit der heutigen Wissenschaft die Fragen der Gegenwart aufnehmen und sich einer „aufrichtigen und bewussten Begegnung mit dem Westen öffnen“. Das Dokument Grundlagen der Sozialdoktrin der russisch-orthodoxen Kirche vom August 2000 – so verdienstvoll es in vielerlei Hinsicht ist – hat nach Kyrleschew seine Aufgabe nur zum Teil erfüllt, weil lediglich der gegenwärtige Ist-Zustand der Kirche beschrieben und die Anwendung der christlichen Wahrheit auf die moderne soziale Realität nur ungenügend aufgezeigt wird.

Kyrleschew fordert einen neuen Typus von sehr gut gebildeten Priestern und Bischöfen, deren Wirken nicht einfach auf den Gottesdienst und die individuelle Seelsorge beschränkt ist, sondern auch in die politischen, sozialen, kulturellen  und interkonfessionellen Sphären ausstrahlt. Ein unreflektierter Reformismus ist ihm fern. Die Kirche müsste in der heutigen säkularen Welt vermehrt ein lebendiges Zeugnis ihrer Tradition ablegen und in diesem Rahmen dynamisch und kreativ  wirken. Der Weg der Kirche ist eine via mediazwischen Modernismus und Tradition, die fundamentalistische und traditionalistische Gefahr ist nach Kyrleschew zur Zeit größer als die modernistische und liberale. Der Großteil der heutigen Hierarchie sieht dies gerade umgekehrt. Ein grober Fehler ist es auch, dass sich die russisch-orthodoxe Kirche dem inhaltlichen interreligiösen Dialog nicht stellt, sondern sich auf sich selber zurückzieht.

Die inhaltsreichen, meines Erachtens weitgehend zutreffenden und zum Nachdenken anregenden Beiträge werden in einer guten und flüssig lesbaren Übersetzung dargeboten und mit sehr sachkundigen Anmerkungen ergänzt, die von den Herausgeberinnen Anna Briskina-Müller und Dagmar Heller verfasst sind. Die bis 2010 aufgezeichneten Linien der theologischen und kirchlichen Entwicklung Russlands haben sich in vergangenen fünf Jahren weiter akzentuiert.

Erich Bryner, Schaffhausen

Zitierweise: Erich Bryner über: Alexander Kyrleschew: Die russische Orthodoxie nach dem Kommunismus. Das byzantinische Erbe und die Moderne.Herne: Schäfer, 2014. 467 S. = Studien zur Kirchengeschichte und Theologie 9. ISBN: 978-3-944487-16-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Bryner_Kyrleschew_Die_russische_Orthodoxie_nach_dem_Kommunismus.html (Datum des Seitenbesuchs)

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