Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Alfons Brüning

 

György Péteri (ed.): Imagining the West in Eastern Europe and the Soviet Union. Pittsburg Pa., 2010, 330 S. = Pitt Series in Russian and East European Studies; Kritika Historical Studies. ISBN: 978-0-8229-6125-3.

Inhaltsverzeichnis:
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Wer dieses Buch zur Hand nimmt, ist erst einmal etwas irritiert, aber es ist eine Irritation, die schnell einer faszinierenden Lektüre Platz macht. Der Titel lässt zunächst vermuten, dass man es mit einer eingehenden Studie über die große Erzählung vom ausbeuterischen, dekadenten und historisch überholten Westen zu tun hat, als welcher die nichtsozialistische Welt laut sowjetischer, marxistisch-leninistischer Theorie zu erscheinen hatte. Ein erster Blick aufs Inhaltsverzeichnis kündigt dann eine Sammlung von Untersuchungen höchst disparater Sujets an, die einem einzelnen Rezensenten den Job schwer machen könnten. Was freilich wirklich vorliegt, ist ein Kompendium von differenzierenden, in ihrer Qualität ausnahmslos exzellenten Einzelstudien zur Auseinandersetzung mit „dem Westen“ in den verschiedenen Ländern des Ostblocks.

Dabei bleibt, wie die Einleitung des Herausgebers verrät (S. 5) die Schablone des genannten Narrativs vom „Westen“ grundsätzlich erhalten was und wo immer der im Eeinzelnen auch sein mochte; zum „kapitalistischen Ausland“ wurde z. B. häufig der größere Teil Lateinamerikas gerechnet. Aber was die einzelnen Studien hier an Nuancierungen, Einzelaspekten und Abweichungen im Detail beizutragen haben, verleiht dem etwas platten Narrativ gleichsam reales Leben. Theoretisch sind, was gegenwärtige Perspektiven von Forschungsrichtungen wie mental mapping, collective identity u.a. angeht, die Beiträge voll auf der Höhe. Auch dies trägt dazu bei, eingefahrene Denkmuster zu überwinden.

Der Eindruck einer gewissen Disparität bleibt freilich, und dies vor allem, weil einige der Beiträge sich wohl in ein breiteres Forschungsfeld west-östlicher Wahrnehmungsmuster (bzw. der altehrwürdigen Russland-Europa-Debatte) einfügen, weniger jedoch unmittelbar in die Ost-West-Thematik der Systemkonfrontation zu Sowjetzeiten. Karen Gammelgaard etwa berichtet in ihrem Beitrag von der Desillusionierung tschechischer Russlandreisender zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Tschechien rückte in der Folge in der Eigenwahrnehmung umso nachdrücklicher in die Mitte Europas. Erik Ingebritsen beschreibt die Bemühungen um die Errichtung einer staatlichen Gesundheitsfürsorge im Ungarn der 1930er Jahre, hinter denen ideologisch die Suche nach einem originären „magyarischen“ Modell stand, das den einheimischen Verhältnissen allein gerecht zu werden versprach. Einen eigenen Weg bei der (kollektiven) Organisation von Dingen wie Gesundheitsfürsorge oder  öffentlichem Nahverkehr versuchte, nun direkt unter den Bedingungen der Systemkonfrontation, die ČSSR einzuschlagen – hier bewusst, wie Paulina Bren aufzeigt, eine Entscheidung des Entweder-Oder vermeidend.

Unmittelbarer ins Bild gehört der instruktive Beitrag von Barbara Walker über die Beziehungen von sowjetischen Dissidenten zu ausländischen Journalisten. Mit einer simplen Ost-West-Konfrontation ist freilich auch diesem Thema nicht beizukommen – wie deutlich wird, konnten die Beziehungen von freundschaftlicher Kooperation bis zu anti-westlichen Animositäten reichen. Entscheidend hierfür war ein Mechanismus, der die westlichen Journalisten zu Insidern oder Outsidern in den oft hermetisch anmutenden Zirkeln der Dissidenten machte, meist nach Maßgabe dessen, wieweit sich die Journalisten an die in Dissidentenkreisen präsenten moralischen Standards und die oft anzutreffende Mentalität der Selbstaufopferung (samopožertvovanie) anzupassen bereit waren.

Wo noch direkter die narrative Schablone vom ausbeuterischen und dekadenten Westen gegenüber dem „fortschrittlichen“ sozialistischen Osten zum Tragen kommt, geht es dann im Prinzip meist um das „Einholen und Überholen“. Das schloss freilich ein, kulturelle Errungenschaften des „Westens“ anzuerkennen und in geeigneter Form zu adaptieren, ja bisweilen sogar in partieller Überlegenheit auszugleichen. Zwei Beiträge zur Architektur, nämlich David Crowleys Artikel über Warschauer Architekten und deren Überlegungen zum Bau von Stadtzentren, und Greg Castillos Beitrag über den Umgang mit dem Erbe der Großen Bauakademie in der DDR gehören in diesen Zusammenhang. Aber auch der Umgang mit dem musikalischen Erbe Richard Wagners im geteilten Deutschland, den Elaine Kelly dokumentiert, ist in diesen Kontext zu rechnen.

Seit dem Ende der Stalinra und zugleich im Zusammenhang mit den Aufstandsbewegungen der Mitte der 1950er Jahre verlagerte sich die Konkurrenz von der Industrialisierung und den technischen Errungenschaften mehr und mehr auf die sog. „materielle Kultur“ und einen „sozialistischen Lebensstil“. Das betraf beispielsweise – schon vor dem Zweiten Weltkrieg erkennbar, aber danach deutlich verstärkt – die Propaganda der Sowjetunion als Vorreiterin von Kinderrechten und als kinderfreundlicher Staat par excellence. Der Topos wurde sowohl auf internationaler Bühne als auch nach innen gepflegt, in letzterem Fall mit öffentlichen Festen und Veranstaltungen (der „Woche des Kindes“) und einem in der Presse gerne herausgestellten Gegensatz zwischen angeblicher sozialer Verelendung vor allem der Kinder im „Westen“ und dem sowjetischen Kinderparadies, das ein Aufwachsen frei von sozialen, autoritären oder materiellen Zwängen erlaubte. Hier allerdings ging der Schuss, wie aus dem Beitrag von Catriona Kelly hervorgeht, am Ende nach hinten los. Denn an den verkündeten Standards wurde das Regime auch von der eigenen Bevölkerung gemessen, und da die Realität von der Idylle der Propaganda zusehends weiter entfernt war, trug dieser Gegensatz zur Desillusionierung und zur Destabilisierung des Systems bei.

Wo man sich, wie etwa die von Anne Gorsuch ausgewerteten Filmdokumente zum Tourismus aus der Chruščev-Zeit zeigen können, vorsichtig den Errungenschaften einer westlichen Konsumkultur öffnete, geschah dies immer mit einer Mischung aus neuer Liberalität und der Sorge vor einem Rückfall in bourgeoise Dekadenz. Die Adaptation hatte, so hieß es programmatisch, mit Vorsicht und im sozialistischen Geist zu geschehen. Ein anderes Beispiel für diese neue und ambivalente Konkurrenz der Lebensstandards, wo gleichsam auf einem anderen Spielfeld die Maxime des „Einholens und Überholens“ erneut zum Tragen kommen sollte, dokumentiert Susan E. Reid in der kritischen Aufnahme der großen Amerika-Ausstellung im Moskauer Sokol’niki-Park im Jahr 1959. Insgesamt wurde auf lange Sicht immer weniger deutlich, worin in einem „sozialistischen Konsum“ das eigentlich Sozialistische bestehen sollte. Hier wird – so auch im Schlusskapitel von Michael David-Fox – eine prinzipielle Spannung des staatssozialistischen Modells (S. 8) benannt: Modernisierungsschritte können nicht einfach nachgeholt oder integriert werden, sie müssen immer dazu führen, im Modernisierungsprozess selbst die Führung zu übernehmen und die Überlegenheit des Systems unter Beweis zu stellen. Im gleichen Zug muss der vom ideologischen Grundnarrativ gebotene Systemgegensatz künstlich zementiert werden, anstatt – wie es in der Realität wohl zu beobachten war – auf vielen Ebenen zu verschwimmen.

Zur Auswertung der vielfältigen Beobachtungen in diesem Band ist sicher noch viel mehr zu sagen. Auch wenn angesichts der gebotenen Vielfalt nicht alle Beiträge von einem Rezensenten angemessen gewürdigt werden können – der Band bietet eine in jeder Hinsicht bereichernde Lektüre, und diese Lektüre ist zugleich ein Muss vor weiteren Studien auf dem behandelten Gebiet.

Alfons Brüning, Nijmegen

Zitierweise: Alfons Brüning über: György Péteri (ed.): Imagining the West in Eastern Europe and the Soviet Union. Pittsburg Pa., 2010, 330 S. = Pitt Series in Russian and East European Studies; Kritika Historical Studies. ISBN: 978-0-8229-6125-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Bruening_Peteri_Imagining_the_West.html (Datum des Seitenbesuchs)

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