Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Karsten Brüggemann

 

Guntis Šmidchens: The Power of Song. Nonviolent National Cultures in the Baltic Singing Revolution. Seattle: University of Washington Press, 2014. 446 S., 17 Abb., 1 Kte. = New Directions in Scandinavian Studies. ISBN: 978-0-295-99452-9.

Am Ende dieses faszinierenden Buches, in der letzten Fußnote, gibt es eine Liste von 65 Personen, die, wie der Autor, Professor für „Baltic Studies“ an der University of Washington in Seattle, nicht zu Unrecht feststellt, selbst Historiker der baltischen Staaten kaum je nennen würden (S. 408). Es handelt sich um die Autorinnen und Autoren der Lieder, die während der so genannten Singenden Revolution in Estland, Lettland und Litauen populär waren, darunter auch 27 Namen aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Šmidchens ist es gelungen, diese Lieder, die aus der perestrojka in den baltischen Sowjetrepubliken die „Singende“ Revolution machten, zum Sprechen zu bringen, denn mehr noch als die baltischen Sängerinnen und Sänger sind sie es, die im Mittelpunkt seiner Studie stehen. In seiner Sicht waren es tatsächlich die Lieder – und die Praxis des Singens –, die den Geist des gewaltfreien Widerstands auf die Menschen übertragen hätten, so dass letztlich die Sowjetmacht entwaffnet worden sei; die Antwort auf die Frage, warum die sowjetische Seite nicht doch mit einer Militäraktion kurzerhand die alte Ordnung wiederhergestellt hat, eine Möglichkeit, die Šmidchens durchaus anspricht, muss er jedoch schon deshalb schuldig bleiben, weil ihn die politischen Entwicklungen der Zeit nur am Rande interessieren. Somit liefert dieses Buch nicht die ultimative Geschichte der baltischen Unabhängigkeitsbewegungen: Die „Singende Revolution“ auf eine Konfrontation „between civilians and the armed soldiers of a military superpower“ (S. 134) zu reduzieren, trifft vielleicht das Bild dieser Jahre im kollektiven baltischen Gedächtnis, hat aber mit der Komplexität der historischen Situation wenig zu tun.

Wenn der Gesamteindruck dennoch deutlich positiv ausfällt, liegt dies auch am Autor. Für seine Studie bringt Šmidchens die besten Voraussetzungen mit, da er alle drei Sprachen der Region beherrscht. Das übliche Problem, dass in Gesamtdarstellungen aller drei Länder eines überproportional behandelt wird, tritt daher hier nicht auf, ohne dass die Unterschiede zwischen den drei Kulturen dabei verwischt werden. So wechselt Šmidchens souverän zwischen den drei Schauplätzen, wobei er immer wieder auf seine eigenen folkloristischen Feldforschungen zurückgreift. Das Smithsonian Folklife Festival in Washington 1998, auf dem Ensembles der drei baltischen Staaten auftraten und die Lieder der Singenden Revolution erinnerten, dient ihm als Ausgangspunkt für seine Reise in die Welt der Lieder, deren Texte hier in exzellenten englischen Übersetzungen in die Narration einfließen. Wie der Autor selbst weiß, ist dies nur ein schwacher Ersatz dafür, sie in der eigenen Muttersprache öffentlich zu singen, doch nimmt er für sich den Herder’schen Ansatz in Anspruch, „(to) publish songs in a way that would extend their effects to his readers“ (S. 25). Das ist jedoch höchstens auf der semantischen Ebene möglich, die der Autor dann auch eingehender analysiert als etwa die musikalische oder emotionale.

Dies gelingt ihm recht anschaulich im Kapitel über die Rolle der Musik im aufkommenden Nationalismus in den Ostseeprovinzen des Russländischen Imperiums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, auch wenn er sich kaum um eine Erklärung des Phänomens an sich bemüht und lapidar auf Arbeiten von Anthony Smith und Benedict Anderson verweist. Ein anschließendes Kapitel über vor allem litauische Kriegslieder schlägt dann einen Ton an, der prägend für die Studie ist: Fast alle Lieder, die Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts gesungen worden sind, hätten persönliche Emotionen von Leben und Tod im Kontext des „national struggle“ besungen und – wie ihre Interpreten – „a gentle identity based on love, even in war“ bestätigt (S. 134). Trotz dieses Befundes ist sich auch Šmidchens realistischerweise nicht sicher, wie viel letzten Endes dazu gefehlt hat, dass es in Extremsituationen auch zu Gewalt von baltischer Seite gekommen wäre, was dann möglicherweise zu weiteren militärischen Aktionen des Zentrums hätte führen können. Nun behauptet Šmidchens auch nirgendwo, die Lieder hätten Krieg verhindert; man darf ihn aber so verstehen, dass sie es waren, die die letztlich erfolgreiche Form des friedlichen Widerstands ermöglicht haben – auf den estnischen Liederfesten seien seit 1869 nur zwei Lieder gesungen worden, die zur Gewalt gegen Feinde aufriefen: die Zaren- und die stalinistische Sowjethymne (S. 113).

In seinem Kapitel über die Musik der baltischen Sowjetrepubliken konzentriert sich Šmidchens auf die jeweiligen Republikshymnen und die Lieder, die auf den alle fünf Jahre stattfindenden nationalen Liederfesten zu Erinnerungsorten einer nicht-sowjetischen Heimat wurden. Mit Rückgriff auf Václav Havels „Leben in der Lüge“, welches die soziale Alternative des „Lebens in Wahrheit“ schon in sich trägt, behauptet er, die Singende Revolution habe bereits in den späten vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts eingesetzt, als auf den ersten dieser nationalen Massenveranstaltungen nicht-sowjetische sowjetischen Liedern gegenüberstanden. Die sowjetische Dekoration dieser Feste habe nicht verschleiern können, dass es beim Singen nie darum gegangen sei, dem Regime gegenüber Loyalität auszudrücken. Singen sei ein Mittel zur Rehabilitation all der Werte gewesen, die Havel für die von der „Macht der Machtlosen“ angestrebten Reformen veranschlagt habe (S. 159).

Dementsprechend sind die drei Kernkapitel des Buches auch mit Living within the truth überschrieben: in der Chormusik, in der Rockmusik und im Folk. Hier ist der Autor in seinem Element, denn so emphatisch und kenntnisreich hat noch niemand das Repertoire der Singenden Revolution dargestellt, doch schließt er die Vorgeschichte seit den sechziger Jahren stets mit ein. Dabei kommen auch Unterschiede zur Sprache: Vor allem in Estland sei die Rockmusik Triebfeder gewesen, während in der Litauischen SSR seit den siebziger Jahren die Beschäftigung mit ‚authentischer‘ Volksmusik weite Kreise erfasst habe und auch – im Gegensatz zur Lettischen SSR – von der akademischen Wissenschaft unterstützt worden sei. Leider versäumt es Šmidchens, auf parallele Entwicklungen der Brežnev-Jahre im russischen Kernland der UdSSR einzugehen; entsprechende Verweise auf die Arbeiten von Alexei Yurchak oder Laura Olson werden nur kurz in den Anmerkungen verarbeitet. Eine Abhandlung über den gesamt­sowjetischen kulturellen Rückgriff auf authentische Traditionen gerade im Bereich der Folklore seit den siebziger Jahren wäre eine interessante Forschungsaufgabe für die Zukunft.

Insgesamt nimmt der Autor seinem Gegenstand gegenüber eine deutlich sympathisierende Haltung ein. Er behauptet dabei sogar gegen die üblicherweise geäußerte Skepsis, der motivierende Enthusiasmus der musikalischen Veranstaltungen des Jahres 1988 sei schon bald im Schatten der politischen Konflikte zwischen Peripherie und Zentrum von einer lähmenden Ernüchterung abgelöst worden , der eigentliche Höhepunkt der Singenden Revolution seien die komplett de-sowjetisierten Liederfeste des Jahres 1990 gewesen (S. 318). Die Lieder hätten die Emotionen weitergetragen, derer sich die Politiker immer wieder versichert hätten. Aus der speziellen Perspektive, die von Šmidchen meisterhaft ausgelotet worden ist, und ohne die keine zukünftige Darstellung dieser Zeit wird auskommen können, mag dies sicher stimmen. Aber seine Sichtweise ist ein Blick zurück auf einen glanzvollen Erfolg des friedlichen Widerstands. Dieser Blick suggeriert eine nationale Einheit innerhalb der Esten, Letten und Litauer, die wohl tatsächlich nur in der vagen Zielvorstellung der Loslösung von der UdSSR bestand. Denn darüber, was mit den ethnokulturell erweckten Emotionen konkret in Hinsicht auf die Erreichung (mehr noch: die Ausgestaltung) dieses Zieles anzufangen war, herrschte eben keine Einigkeit. Und Lieder setzen keine politischen Reformen um.

Und dennoch ist The Power of Song bei weitem das inspirierteste und aufschlussreichste Werk, das bislang über die „Singende Revolution“ erschienen ist. Zwar fehlt dem Buch die audiovisuelle Dimension, doch kann man sich dank dem beigefügten ausführlichen Verzeichnis der Lieder mit Hilfe der einschlägigen Dienste im Internet zumindest einen ersten Eindruck verschaffen.

Karsten Brüggemann, Tallinn

Zitierweise: Karsten Brüggemann über: Guntis Šmidchens: The Power of Song. Nonviolent National Cultures in the Baltic Singing Revolution. Seattle, WA: University of Washington Press, 2014. 446 S., 17 Abb., 1 Kte. = New Directions in Scandinavian Studies. ISBN: 978-0-295-99452-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Brueggemann_Smidchens_The_Power_of_Song.html (Datum des Seitenbesuchs)

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