Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Karsten Brüggemann

 

Olaf Mertelsmann: Die Sowjetisierung Estlands und seiner Gesellschaft. Hamburg: Kovač, 2012. 157 S. = Tartuer historische Studien, 1. ISBN: 978-3-8300-6273-8.

Olaf Mertelsmann: Everyday Life in Stalinist Estonia. Frankfurt am Main, Berlin, Bern [usw.]: Lang, 2012. 163 S., Tab. = Tartu Historical Studies, 2. ISBN: 978-3-631-62309-1.

Der Sowjetisierung Estlands ist mittlerweile eine imponierende Anzahl von weiterführenden Studien gewidmet, zu denen auch Olaf Mertelsmanns Arbeiten zählen. In zwei recht dünnen (und nicht gerade preiswerten) Bändchen hat der Dozent für Zeitgeschichte an der Universität Tartu nun eine Reihe von bereits erschienenen und bislang unveröffentlichten eigenen Beiträgen vorgelegt. Mit den beiden Artikelsammlungen liegen nun einige in abgelegenen lettischen, rumänischen oder russischen Publikationen erschienene Texte praktischerweise gesammelt vor. Dass dabei ein englisch- und ein deutschsprachiger Band herausgekommen ist, mag man sich schlüssig zwar nur mit dem derzeit Osteuropa erfassenden biometrischen Wahn erklären, denn Zweitverwertungen in gelisteten Verlagen haben nach diesen Kriterien durchaus einen höheren Wert als Artikel in kleinen Zeitschriften mit lokaler Reichweite. Benutzerfreundlicher wäre es in jedem Fall jedoch gewesen, Mertelsmanns Texte in einem Band zusammenzufassen.

Noch besser wäre es allerdings gewesen, wenn sich der Autor der Mühe unterzogen hätte, aus den einzelnen Beiträgen eine kohärente Monografie, gerne auch in englischer Sprache, zusammenzufügen. Zumindest hätten aber die einzelnen Beiträge überarbeitet werden müssen. Denn wer die beiden vorliegenden Sammelbände von vorne nach hinten durchlesen möchte, findet immer wieder ähnlich gelagerte einleitende Passagen über Estland vor 1940, die hätten eliminiert werden können. Der Entstehungszusammenhang der einzelnen Texte wird meist nur mit einer Anmerkung, in der der Erstveröffentlichungsort angegeben wird, angedeutet, zuweilen fehlt auch dies. Nicht einmal die Fußnoten wurden überarbeitet, so dass stets nur auf den Erstveröffentlichungsort von Mertelsmanns Texten verwiesen wird, nicht aber darauf, dass sich genau der zitierte Beitrag womöglich nur ein paar Seiten weiter im selben Band befindet. Auch wurde neuere Literatur nicht mehr hinzugefügt, was insbesondere in den Texten zu Medien und Freizeit auffällt, wo man vergeblich nach Hinweisen auf Kristin Roth-Ey oder Simo Mikkonen sucht (die der Autor selbstverständlich kennt). Dass manche Textpassagen (Sowjetisierung, S. 43, 65) identisch sind und Tabellen mehrfach vorkommen (so die Tabelle über die Bezugsquellen von Lebensmitteln: Everyday Life, S. 37, 95, 115; Sowjetisierung, S. 88), verwundert bei dieser etwas lieblosen Form der Zweitverwertung dann schon nicht mehr. Ob es inhaltliche Kriterien gab, nach denen die Texte in einen der beiden Bände aufgenommen wurden, erschließt sich ebenso wenig aus den recht lakonischen Vorworten wie die Logik, warum ausgerechnet der knappe Text zur Freizeit in Sowjet-Estland in beiden Bänden erscheint. Dass der jeweils erste Text über den Begriff der Sowjetisierung auch zweimal neu publiziert wurde, macht demgegenüber schon eher Sinn.

Inhaltlich besteht das große Plus von Mertelsmanns Aufsätzen darin, schriftlich festgehaltene Lebensgeschichten und – zum Teil von ihm selbst geführte – Interviews für die Darstellung der Nachkriegsgeschichte Estlands heranzuziehen. Gerade dieser Aspekt jedoch hätte in einer monografischen Darstellung betont werden können. Die für die Aufsatzform verständlicherweise knapp gehaltenen methodologischen Hinweise darauf, dass mit diesen Quellen kritisch umgegangen werden müsse, hätten in einem einleitenden Kapitel ausführlicher dargelegt werden können. So stellt sich bei wiederholter Lektüre der Warnung des Autors, mündliche Informationen für bare Münze zu nehmen, die Frage von ganz allein, ob man nicht mit diesen Quellen eine ganze Menge mehr hätte machen können, als sie jeweils nur illustrierend für die Aufsätze zu nutzen.

Diese formalen Kritikpunkte ändern freilich wenig daran, dass Mertelsmanns Aufsätze Pflichtlektüre für jeden darstellen, der über die sowjetische Nachkriegszeit arbeitet. Gemeinsam mit David Feest, Anu-Mai Kõll und Elena Zubkova gehört er zu den profiliertesten Autoren, die sich mit dieser Zeit auseinandersetzen. Wesentlich sind seine Anmerkungen zur sinkenden Lebenserwartung und zum niedrigeren Lebensstandard in der Estnischen SSR im Vergleich zu den letzten Vorkriegsjahren, erklären sie doch im Wesentlichen, warum es der UdSSR nicht gelang, ja wohl nicht gelingen konnte, die Bevölkerung der neuen Sowjetrepublik auf ihre Seite zu ziehen. Auf der anderen Seite spricht Mertelsmann ein Thema an, das von den lokalen Historiografien bei weitem noch nicht ausreichend untersucht wurde: Den Zusammenhang von Gewalt und Terror mit der allmählichen Anpassung an das Regime. Mertelsmanns Schilderungen der Überlebensstrategien der estnischen Bevölkerung machen zudem klar, was für einen Kulturwandel die Sowjetisierung in der Region bedeutet hat. Dass Schnapsbrennerei von nun an in weitaus stärkerem Maße als zuvor zum Alltag vor allem auch in den ländlichen Regionen des Landes gehörte, wird von ihm immer wieder thematisiert (siehe v.a. Everyday Life, S. 41–51). Wichtig, wenn auch diskussionswürdig, ist die Überlegung, dass die Ausgangslage des beginnenden Kalten Kriegs zumindest zum Teil für die Gewalt und Härte des Sowjetisierungsprozesses verantwortlich zu machen sei (Sowjetisierung, S. 129–150). Ob jedoch ohne die internationale Konfrontation und die damit begründete Beibehaltung der militärischen Anstrengungen die Integrationsbemühungen des Regimes in den baltischen Staaten friedlicher abgelaufen wären, muss Spekulation bleiben.

Die extrem hohe Produktivität des „Seelenlandes“, der privaten Parzelle der kollektivierten Bauern, wohingegen die Kolchosen nur durch Diebstahl und Schiebereien am Leben erhalten wurden; das perfekte Funktionieren des blat als Überlebensstrategie in einer Mangelwirtschaft besonders in einer so kleinen und eng vernetzten Gemeinschaft wie der der Esten; die Hoffnung auf ein militärisches Eingreifen der Westalliierten, die gerade in den Erinnerungen fälschlicherweise mit den westlichen Radiostationen verknüpft wird – alle diese Aspekte vermitteln uns ein breit gefächertes Bild von Nachkriegsestland, das aus den nun wiederveröffentlichten Texten herausgelesen werden kann. Dass Mertelsmann sich u.a. auch mit den Fragen der Freizeitkultur – wenn auch nur in geraffter Form – auseinandersetzt, macht seine Fallstudien zu Estland umso wichtiger als Vergleichsmaßstab für die immer noch auf den russischen Raum konzentrierte Sowjetunionforschung. So wichtig die einzelnen Beiträge damit auch in ihrer Essenz sind, hätte man sich bei ihrer Neupublikation doch etwas mehr Mühe geben können.

Karsten Brüggemann, Tallinn

Zitierweise: Karsten Brüggemann über: Olaf Mertelsmann: Die Sowjetisierung Estlands und seiner Gesellschaft. Hamburg: Kovač, 2012. 157 S. = Tartuer historische Studien, 1. ISBN: 978-3-8300-6273-8. Olaf Mertelsmann: Everyday Life in Stalinist Estonia. Frankfurt am Main, Berlin, Bern [usw.]: Lang, 2012. 163 S., Tab. = Tartu Historical Studies, 2. ISBN: 978-3-631-62309-1., http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Brueggemann_SR_Mertelsmann_Sowjetisierung_Estlands.html (Datum des Seitenbesuchs)

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