Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Mark Brüggemann

 

Per Anders Rudling: The Rise and Fall of Belarusian Nationalism, 1906–1931. Pittsburgh: University of Pittsburgh Press, 2015. 448 S., 46 Abb. = Pitt Series in Russian and East European Studies. ISBN: 978-0-8229-6308-0.

Rudlings Intention ist nach eigenen Angaben das „Studium von einigen hundert nationalistischen Intellektuellen und ihrer Konstruktion einer neuen Ethnizität östlich von Polen und westlich von Russland“ (S. 8). Nach einer erfreulich kurzen Diskussion von Nationalismustheorien in Kapitel 1 folgt der Autor dem Modell von Miroslav Hroch und nimmt als Phase des weißrussischen „Gelehrtennationalismus“ die Jahre etwa von 1906 bis 1915 an – zwischen Russischer Revolution von 1905 und Beginn der deutschen Besatzung im westlichen und zentralen Weißrussland (S. 17). Als Phase politischer Mobilisierung hingegen – um die es im Buch hauptsächlich geht – betrachtet er ungefähr die Jahre von 1915 bis 1926, d. h. bis zum allmählichen Beginn einer repressiven Politik Warschaus und Moskaus gegenüber den Weißrussen.

Angesichts dieser Periodisierung etwas irritierend ist die Benennung des zweiten Kapitels, The Beginnings of Belarusian Nationalism, da hier bereits – inhaltlich zu Recht – die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Ereignissen wie dem vor allem sozial motivierten Aufstand von Kastus’ Kalinoŭski (1863) in den Blick genommen wird. Mit rund zwei Seiten (S. 33–34) etwas zu knapp fallen die Ausführungen zum wichtigen Konzept des „Westrussismus“ aus, der herrschenden Ideologie des Russischen Zarenreichs in Bezug auf die heutigen weißrussischen Gebiete. Gegen den Westrussismus standen neben der „klassenkämpferischen“ Haltung der Belaruskaja sacyjal-dėmakratyčnaja Hramada der beginnende weißrussische Ethnonationalismus und die krajovy-Ideologie, die eine multiethnische Föderation auf dem Gebiet des ehemaligen Großfürstentums Litauen anstrebte.

In Kapitel 3 hebt Rudling hervor, dass zwischen 1917 und 1920 gleich sechsmal eine weißrussische Staatlichkeit erklärt worden sei, und übertitelt dies als Origins of a New National Mythology (S. 66). Diese Zählung und Akzentuierung vermeintlicher weißrussischer Staatsgründungen ist fragwürdig und unüblich, was sich auch darin widerspiegelt, dass – wie der Autor selbst feststellt – nur zwei dieser bis auf eine Ausnahme sehr kurzlebigen „Nationalstaaten“ bis heute im kollektiven Gedächtnis verankert sind und für widerstreitende Geschichtsbilder stehen. Zum einen ist dies die unter deutscher Besatzung ausgerufene Weißrussische Volksrepublik (BNR), ein Sehnsuchtsort der heutigen nationalistischen Intelligenz, zum anderen die bis zur Auflösung der Sowjetunion existierende Weißrussische Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR), Kristallisationspunkt des sowjetnostalgischen Teils der heutigen Bevölkerung von Belarus’.

Kapitel 4 ist der frühen, als liberales „Schaufenster“ nach Westen dienenden Nationalitätenpolitik der BSSR gewidmet, die aus Indigenisierung (korenizacija) der Staats- und Parteikader, Weißrussifizierung, d. h. Durchsetzung des Weißrussischen als Hauptsprache des öffentlichen Lebens und des Bildungssystems, sowie der Förderung von Minderheitensprachen bestand – neben dem Weißrussischen waren Russisch, Jiddisch und Polnisch Amtssprachen. Detailliert schildert Rudling, mit welchem Nachdruck diese Politik betrieben wurde und an welche Grenzen sie angesichts der Tatsache, dass damals die überwiegende Mehrheit der Weißrussen auf dem Land lebte, stieß.

Die Situation im polnischen Westweißrussland nach dem Ersten Weltkrieg und dem Friedensvertrag von Riga, Thema des Kapitels 5, war anfänglich vom Bestreben der politisch dominierenden endecja geprägt, durch eine Assimilationspolitik im Schulwesen und die Ansiedlung polnischer Kriegsveteranen in den Ostgebieten (kresy) die ethnischen Grenzen Polens im Osten den staatlichen Grenzen anzupassen, was aber aufgrund schwacher Regierungskoalitionen und wirtschaftlicher Probleme nur teilweise gelang (S. 170). Weißrussische Parteien wie die im Untergrund kämpfende Kommunistische Partei Westweißrusslands (KPZB), die sozial ebenfalls egalitären, aber antikom­mu­nistischen und ethnonationalistischen Weißrussischen Christdemokraten (BChD), vor allem aber die mit Abstand am breitesten unterstützte und vom Verfasser mit spürbarer Sympathie beschriebene Weißrussische Arbeiter- und Bauern-Hramada (BSRH) stellten sich aus unterschiedlichen ideologischen Positionen heraus und mit unterschiedlichen Mitteln gegen diese Politik.

Kapitel 6 ist dem Widerstand gegen die Nationalitätenpolitik in der BSSR gewidmet. Zutreffend macht Rudling dessen Hauptgründe aus: eine noch weitgehend in vornationalen (lokalen, religiösen) Identitäten verhaftete Landbevölkerung, den Unmut über das ‚künstlich‘ auferlegte Weißrussisch, das Karrierewege in den weiterhin russisch geprägten städtischen Milieus, vor allem dem akademischen Milieu, zu verbauen schien (ein Argument, das Gegner des Weißrussischen auch heute ins Feld führen) sowie den 1924 und 1926 erfolgten Transfer überwiegend russischsprachiger Territorien von der russischen an die weißrussische Sowjetrepublik. Nicht ganz klar ist, warum der Autor die für die Weißrussifizierung zweifellos wichtige Orthographiekonferenz von 1926 in diesem Kapitel und nicht als Bestandteil der Nationalitätenpolitik in Kapitel 4 abhandelt; zu diesem Thema ist unlängst die von Rudling nicht mehr berücksichtigte Monographie Belaruskae movaznaŭstva i razviccë belaruskaj litaraturnaj movy: 1920–1930 hady des Minsker Belarussisten Sjarhej Zaprudski erschienen.

In Polen unter der autoritären sanacja-Herrschaft von Józef Piłsudski (Kapitel 7) erfolgte zwar eine Abkehr vom völkischen Nationalismus der endecja, und Vertraute des Marschalls entwickelten Konzepte einer polnisch geführten multinationalen Föderation in den kresy (sogenannter „Prometheanismus“ in Anlehnung an die krajovy-Ideologie, S. 253–257). Letztlich aber gab man die Weißrussen, unter denen die prosowjetische Orientierung immer weiter obsiegte, auf und verbot sowohl die BSRH als auch deren Nachfolgeorganisation Zmahan’ne (S. 268–270).

Weitaus härter jedoch wurde der weißrussische Nationalismus von der Beendigung der liberalen Nationalitätenpolitik und den Repressionen in der BSSR zwischen 1927 und 1931 getroffen (Kapitel 8). Für diese Kehrtwende Stalins führt Rudling mehrere einleuchtende Gründe ins Feld: die Rückkehr Piłsudskis an die Macht und die Angst vor einem polnischen Angriff angesichts des Antikommunismus der bäuerlichen Bevölkerung in der BSSR; die mittlerweile „allzu“ unabhängig agierende intellektuelle Elite der BSSR, die zum großen Teil aus zurückgekehrten Emigranten bestand; die 1928 eingeleitete wirt­schaftliche Zentralisierung in der Sowjetunion, die Russisch als gemeinsames Kommunikationsmedium nahelegte; schließlich der ideologische Gegensatz des praktizierten weißrussischen Nationalkommunismus zum ‚klassischen‘ Marxismus, für den separate Sprachen und Kulturen keinen intrinsischen Wert hatten (S. 310–312).

Trotz weniger Schwächen, darunter auch das Fehlen eines Abkürzungsverzeichnisses, einer Zeittafel sowie von Kurzbiographien der wichtigsten Personen, sollte die Monographie in keiner weißrusslandhistorischen oder belarussistischen Arbeitsbibliothek fehlen. Positiv hervorzuheben sind auch die Fotos, Karten und Abbildungen, die für eine gelungene Veranschaulichung der jeweils beschriebenen Perioden sorgen.

Mark Brüggemann, Oldenburg

Zitierweise: Mark Brüggemann über: Per Anders Rudling: The Rise and Fall of Belarussian Nationalism, 1906–1931. Pittsburgh: University of Pittsburgh Press, 2015. 448 S., 46 Abb. = Pitt Series in Russian and East European Studies. ISBN: 978-0-8229-6308-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Brueggemann_Rudling_The_Rise_and_Fall_of_Belarussian_Nationalism.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2017 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Mark Brüggemann. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.