Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Karsten Brüggemann

 

Alexander V. Prusin: The Lands Between. Conflict in the East European Borderlands, 18701992. Oxford, New York: Oxford University Press, 2010. XI, 324 S., 5 Ktn., 4 Tab. = Zones of Violence. ISBN: 978-0-19-929753-5.

Alexander V. Prusin ist ein Pessimist. Die postsowjetischen Staaten der „borderlands“ von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer hätten mit einem doppelten Erbe zu kämpfen – dem ihrer Selbstdefinition in territorialen, ethnischen und Staatsbürgerschaftskategorien sowie dem der weiter bestehenden Gefahr der Verletzlichkeit ihrer Grenzen. Während der erste Umstand den Autor Parallelen zur Zwischenkriegszeit ziehen lässt, ist der zweite in seiner Sicht eng verbunden mit der imperialen Vergangenheit der Region, worunter er vor allem die Rolle Russlands versteht. Um potentielle Konflikte zu vermeiden, wünscht er sich visionäre politische Führungen, die eine Balance zwischen Reform und Wirtschaftsentwicklung zu halten wüssten und dabei versuchten, „to forge different cultures into a single national identity based on inclusion and tolerance“ (S. 259).

In Prusins Buch geht es allerdings im Wesentlichen um die „conflict period“ von 1914 bis 1953, in der die Nationalstaaten eine Gewaltkultur akzeptiert hätten, die im Großen und Ganzen auch von Teilen der Einwohnerschaft übernommen worden sei. Eine „particular propensity to violence“ möchte der Autor in seinem Untersuchungsgebiet indes nicht erkennen (S. 257), was vielleicht Hoffnung für die Gegenwart wecken soll. Prusin indes beschränkt sich nicht auf das 20. Jahrhundert, sondern bemüht die große Synthese einer über hundert Jahre umfassenden Zeitspanne, die in neun chronologisch gegliederten Kapiteln abgehandelt wird. Abweichend von der üblichen Periodisierung osteuropäischer Geschichte im 19./20. Jahrhundert fügt er allerdings zwei spezielle Kapitel ein, um jeweils die besondere Dynamik der beiden Weltkriege in der Region zu veranschaulichen: „The Frontier Wars, 1918–1920“ und „The Civil Wars, 1941–1944“. Es geht dem Autor in diesen verdichteten Abschnitten um eine Gewaltgeschichte auf Regionalebene, für welche die Auseinandersetzungen zwischen den Großmächten nur die Rahmenbedingungen schufen.

Es liegt nahe, Prusins Buch mit Timothy Snyders „Bloodlands“ (London 2010) zu vergleichen, das sich jedoch für eine weitaus kürzere Zeitperiode – Beginn der dreißiger Jahre bis 1953 – zweihundert Seiten mehr Platz nimmt, seinen Raum etwas anders definiert und den Fokus auf die von Hitlers und Stalins Regimen ausgehende Gewalt an Zivilisten legt. Der „Holodomor“ z. B., den Snyder ausführlich behandelt, ist kein Thema für Prusin, wohl weil es ihm nur um die Westukraine geht und er sich auf Gewalt innerhalb der lokalen Gesellschaften konzentriert. „The Lands Between“ ist auch aufgrund des umfassenderen zeitlichen Rahmens eher eine Art Komplementärstudie zu „Bloodlands“. Eine vergleichbare Intensität in der Darstellung erreicht Prusin gerade deshalb nur in den oben bereits genannten Kapiteln zu den lokalen Kriegen im Schatten der Weltkriege. Demgegenüber werden die knappen Beschreibungen der allgemeinen Friedenszeiten – vor 1914 und nach 1920, vor 1939 und nach 1944/53 – zu vergleichsweise oberflächlichen Aneinanderreihungen von Entwicklungen in den verschiedenen Staaten der Region in Bezug auf die Generierung potentieller ethnischer Konflikte. So wird auf das gewaltsame Potential des Antisemitismus hingewiesen, das sich bereits 1914 im Habsburgerreich gezeigt habe (S. 47f). Kein Wunder, dass die Studie ein spezielles Kapitel auch dem Thema „The Holocaust and Collaboration“ widmet.

Hinzu gesellen sich vermeidbare Fehler. Klaipėda liegt nicht in „western Latvia“, sondern in Litauen (S. 13), und die territorialen Forderungen, die Prusin den Letten – Vereinigung der Provinzen Kurland und Livland (S. 28) – und den Esten – Vereinigung Estlands und Livlands (S. 33) – andichtet, hätten nach 1918 wohl unweigerlich zu estnisch-lettischen Gebietskämpfen führen müssen; allerdings erhoben beide Seiten Anspruch nur auf die jeweils von ihren Konationalen besiedelten Teile der Provinz Livland. Für die Darstellung lettischer Gewalt während der Revolution von 1905/06 nutzt er deutsche antibolschewistische Propagandaliteratur von 1919. Gerade weil die Kontinuität von Gewaltausbrüchen in den „borderlands“ im Fokus dieser Studie steht, hätten die Quellen sorgfältiger geprüft werden müssen. Allerdings muss man dem Autor zugutehalten, eine beeindruckende Auswahl an Literatur in verschiedenen Sprachen (darunter erfreulicherweise auch zahlreiche neuere deutschsprachige Studien) herangezogen zu haben. Umfangreiche Archivstudien fanden aber nur in die Kapitel über den Zweiten Weltkrieg Eingang. Überspitzt gesagt, handelt es sich daher bei den ersten fünf Kapiteln um eine ausführliche Einleitung zum Kernstück des Bandes, dem Abschnitt über die lokalen Bürgerkriege vor allem zwischen Polen, Weißrussen, Ukrainern und Juden im Schatten der deutsch-sowjetischen Front.

Gegenüber diesem Kapitel verblasst auch das über die osteuropäische Kollaboration beim Holocaust, das aber seinen Gegenstand prägnant zusammenfasst: antisemitisch und antisowjetisch motivierte Gewalt, ob als Rache für die Besatzung 1940/41, die zu einer emotionalen Überladung der betroffenen Gesellschaften geführt habe (S. 145), oder als Stimulus für die Nationsbildung rationalisiert, gingen Hand in Hand; hinzu gesellten sich individuelle materielle Interessen und alte Rechnungen. Dass „all the assailants“ tatsächlich Freiwillige gewesen seien, ist zwar vielleicht doch zu apodiktisch formuliert; indes wird man der Behauptung nicht widersprechen wollen, die Gruppe der „reliable local residents“ sei klein, aber effektiv gewesen (S. 175 f).

In Bezug auf den „multi-sided civil war“ in den „borderlands“ macht Prusin deutlich, dass ab Mitte 1942 die Auseinandersetzung mit den Deutschen zweitrangig geworden war. Seine prägnant belegte These, diese Bürgerkriege seien nach 1944/45 in Form des antisowjetischen Widerstands fortgesetzt worden, ist schlüssig und hätte auch in der Gliederung der Studie deutlich werden können; der Autor entschied sich jedoch dafür, beide Sowjetisierungskapitel „Redrawing Ethno-Social Boundaries“ zu nennen und in zwei Phasen (1939–1941, 1944–1953) zu unterteilen. Hier hat sich der klassische Zugriff über die imperiale Politik gegenüber den „borderlands“ zumindest in der Struktur der Studie gegen Prusins innovativen lokalen und transregionalen Blick durchgesetzt (was in Hinblick auf ein studentisches bzw. nicht-akademisches Publikum sicher auch in Ordnung ist).

Es ist bemerkenswert, wie positiv die einstigen „Völkergefängnisse“ der multinationalen Imperien mittlerweile von der Wissenschaft beurteilt werden, schon weil es im 19. Jahrhundert keinen „genocidal madness“ (Hans Rogger) gegeben hat. Prusin behauptet nicht ohne Grund, die Nationalstaaten der Zwischenkriegszeit hätten in Hinblick auf ihre nationalen Minderheiten die Rolle der einstigen imperialen Titularvölker übernommen, wobei sich die jeweilige Herangehensweise durchaus gravierend unterscheiden konnte, vergleicht man etwa die Tschechoslowakei und Polen. Wer den Nationalismus als Kern allen Übels ansieht, sollte aber doch vorsichtig sein, wenn es um die Zukunft geht. Auch basiert auf Inklusion und Toleranz hat Prusins eingangs zitierte Empfehlung, „to forge different cultures into a single national identity“, gerade auch im Licht seiner eigenen Studie – mit Verlaub – ein Geschmäckle.

Karsten Brüggemann, Tallinn

Zitierweise: Karsten Brüggemann über: Alexander V. Prusin: The Lands Between. Conflict in the East European Borderlands, 1870–1992. Oxford, New York: Oxford University Press, 2010. XI, 324 S., 5 Ktn., 4 Tab. = Zones of Violence. ISBN: 978-0-19-929753-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Brueggemann_Prusin_Lands_Between.html (Datum des Seitenbesuchs)

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