Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Mark Brüggemann

 

Annette Kosakowski: Sprachliche Konstruktionen nationaler Identität im postsowjetischen Belarus. Nominations- und Metaphernanalyse am Material belarussischer Staats- und Oppositionszeitungen (1990 bis 2001). München [etc.]: Sag­ner, 2013. 586 S. = Specimina Philologiae Slavicae, 173. ISBN: 978-3-86688-345-1.

Die nationale und sprachliche Entwicklung in Belarus hat seit Ende der neunziger Jahre auch unter deutschen Forschern zunehmend Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Aus Sicht der Geschichtswissenschaft sei etwa auf Rainer Lindners StudieHistoriker und Herrschaftzur Geschichts- und Identitätspolitik im Land verwiesen, aus sprachwissenschaftlicher Perspektive auf die jüngst erschienenen Untersuchungen von Oldenburger Slawisten und Soziologen zur belarussisch-russischen SprachmischungTrasjankaund den Einstellungen ihrer Sprecher (Belarusian trasjanka and Ukrainian suržyk: Structural and social aspects of their description and categorization. Ed. Gerd Hentschel [u.a.]. Oldenburg 2008. = Studia Slavica Oldenburgensia 17; Trasjanka und Surzyk – gemischte weißrussisch-russische und ukrainisch-russische Rede. Sprachlicher Inzest in Weißrussland und der Ukraine? Hentschel, Gerd / Taranenko, Oleksandr / Zaprudski, Sjarhej (Hrsg.). Frankfurt/Main 2014)

Die vorliegende Publikation nähert sich der Identitätsproblematik von einem linguistisch-diskursanalytischen Standpunkt. Anhand einer Analyse der Nominationen und Metaphern in fünf belarussischen Staats- und Oppositionszeitungen soll die Frage beantwortet werden, wie sichWissenüber die nationale Identität der Belarussen in Sprachgebrauchs- und Interpretationsmustern konstituiert. Insbesondere interessiert die Verfasserin, ob und wie sich in den sprachlichen Mitteln die immer wieder konstatierteJanusköpfigkeitder belarussischen Identität widerspiegelt.

Bei den untersuchten Medien handelt es sich um die auflagenstärkste Staatszeitung „Sovetskaja Belorussija“ (russischsprachig), die „Narodnaja Gazeta“ (staatlich, zweisprachig mit Überwiegen des Russischen), „Svaboda“ (nicht-staatlich, überwiegend belarussischsprachig), „Narodnaja Volja“ (nicht-staatlich, zweisprachig) und „Naša Niva“ (nicht-staatlich, belarussischsprachig). Der Untersuchungszeitraum umfasst die Jahre 1990 bis 2001, wobei die „Svaboda“ nur bis 1997 erschien, „Narodnaja Volja“ hingegen erst 1995 gegründet wurde. Aus den insgesamt 1042 identitätsbezogenen Artikeln, welche die Verfasserin in den genannten Zeitungen recherchierte, gelangte sie durch das Verfahren der minimalen und maximalen inhaltlichen Kontrastierung zu einem Untersuchungskorpus von 550 Artikeln.

Im theoretisch-konzeptionellen Teil der Untersuchung gibt die Autorin einen fundierten Überblick über den Diskurs als Forschungsgegenstand der Linguistik, die wichtigsten disziplinenübergreifenden Ansätze zu kollektiver und nationaler Identität sowie über den Forschungsstand zu nationaler Identität und Sprache in Belarus. Als einziger kleinerer Mangel ist hier die fehlende Rezeption der jüngeren Kritik amPlastikwort Identität(Hans-Ulrich Wehler) zu nennen, etwa in den Arbeiten von Rogers Brubaker oder Lutz Niethammer.

Im methodisch-empirischen Teil wendet sich die Verfasserin zunächst der Analyse nationsbezogener Nominationen zu, die sie in die NominationssektorenNationsbezogene Ingroup-Kollektive und Akteure,belarussischer InnenraumundSpracheunterteilt. Die sich anschließende Metaphernanalyse wiederum nimmt Metaphorisierungen in sechs Themenbereichen in den Blick:die nationale Ingroup,Belarus als Innenraum und politisches Konzept,Russland und die belarussisch-russische Integration,Europa und der Westen,GeschichteundSprache. Die gewonnenen Daten werden quantitativ wie qualitativ interpretiert, dabei ebenso in ihrem Gesamtbestand wie in ihrer diachronen Entwicklung. Insbesondere prüft die Verfasserin, ob sich die untersuchten Zeiträume 1990–1995 und 1996–2001 voneinander unterscheiden, d.h. die Phase dernationalen Wiedergeburtvon der darauf folgenden russlandfreundlichen Politik unter Staatspräsident Lukašėnka. Die quantitative Auswertung ist wegen der teils geringen Fallzahlen mitunter problematisch. Als Beispiel sei der NominationssektorSprache(S. 274) genannt, in dem aus einer Spannweite von durchschnittlich 0 bis 11 kodierten Kontexten pro Text und Untersuchungsjahr Schlüsse auf die allgemeine diskursive Entwicklung gezogen werden.

Nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen Belege aus dem untersuchten Material überzeugt jedoch das Fazit der Verfasserin, dass die Staatsmedien prinzipiell eine staats- und raumbezogene Identität der Belarussen propagieren und sich dabeinach Gieseneines traditionalen Codes bedienen. DieoppositionellenMedien dagegen schlagen sich laut Kosakowski auf die Seite einer ethnisch-kulturellen nationalen Identität. Ihr prinzipiell primordialer Code werde in Bezug aufnational noch nicht bewussteBelarussen, die es zu bekehren gelte, durch einen universalen Code ergänzt.

Insgesamt erhält der Leser mit der vorliegenden Untersuchung ein lebendiges Bild vom nationsbezogenen Diskurs in Belarus in den Jahren 1990 bis 2001. Trotz einer gewissen thematischen Nachbarschaft zur ebenfalls unlängst veröffentlichten StudieNull und Atlantis. Metaphorische Konzeptualisierung des Weißrussischenvon Marina Scharlaj setzt die rezensierte Publikation innovative Akzente und widerlegt die häufig vertretene These, dass der staatliche Diskurs in Belarus ein anationales Identitätsmodell vertrete.

Mark Brüggemann, Oldenburg

Zitierweise: Mark Brüggemann über: Annette Kosakowski: Sprachliche Konstruktionen nationaler Identität im postsowjetischen Belarus. Nominations- und Metaphernanalyse am Material belarussischer Staats- und Oppositionszeitungen (1990 bis 2001). München [etc.]: Sag­ner, 2013. 586 S. = Specimina Philologiae Slavicae, 173. ISBN: 978-3-86688-345-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Brueggemann_Kosakowski_Sprachliche_Konstruktionen.html (Datum des Seitenbesuchs)

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