Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Mark Brüggemann

 

Jahrbuch Polen 27 (2016): Minderheiten. Hrsg. vom Deutschen Polen-Institut, Darmstadt. Wiesbaden: Harrassowitz, 2016. 231 S., 74 Abb. ISBN: 978-3-447-10557-6.

Inhaltsverzeichnis:

http://www.deutsches-polen-institut.de/publikationen/jahrbuch-polen/jahrbuch-polen-2016/

 

Im Hinblick auf die Lage von Minderheiten in Polen seit 1989/90 sowie die Tätigkeit von Institutionen in diesem Bereich kann der vorliegende Band als eine Bestandsaufnahme betrachtet werden. Auf eine Einführung von Andrzej Kaluza folgen 14 Essays verschiedener Autoren, zwei Reisereportagen von Matthias Kneip sowie ein Anhang mit Informationen zu den Autoren und Übersetzern. In mehreren Beiträgen wird das Spannungsverhältnis deutlich, in dem sich minoritäre Gruppen in Polen heute befinden: Auf der einen Seite gehören laut aktuellen Zensusdaten nur noch etwa 1,5 % der Bevölkerung nationalen und ethnischen Minderheiten an (S. 4), ein Ergebnis vor allem der nationalsozialistischen Besatzung Polens, der Grenzverschiebungen, Um- und Aussiedlungen in der Nachkriegszeit sowie der Ideologie der „monoethnischen Volksrepublik Polen. Auf der anderen Seite haben die Minderheitenfragen seit der Systemtransformation gesteigerte politische Aufmerksamkeit erfahren, und alles in allem kann der Einführung zufolge „von einer für Minderheiten erfreulichen Entwicklung der Gesetzgebung […]“ gesprochen werden (S. 4).

Hans-Jürgen Bömelburg diskutiert in seinem Beitrag Polens plurales und multikulturelles Erbe kenntnisreich die „teils historisch stichhaltigen, teils eher imaginierten Traditionen einer einstigen Multikulturalität“ seit der polnisch-litauischen Rzeczpospolita und fragt nach der Möglichkeit, diese Traditionen „aufzugreifen und in der gegenwärtigen Situation fruchtbar zu machen“ (S. 8). Er bejaht eine solche Möglichkeit, allerdings unter der Voraussetzung, dass zunächst die „historische Brechung [des Multikulturalismus] durch Überfremdungs- und Verratsdiskurse“ überwunden wird und sich kulturpolitische Akteure finden, „die attraktive Modelle dieser Vergangenheit beschreiben und Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart bauen“ (S. 16).

Lech M. Nijakowski gibt in seinem Beitrag Die Politik des polnischen Staates gegenüber den nationalen und ethnischen Minderheiten einen fundierten Überblick nicht nur über die politische, sondern auch über die rechtliche Entwicklung des Minderheitenschutzes in Polen nach dem Systemwechsel. Als Minderheit mit den gegenwärtig größten Problemen macht er die Roma aus und stellt fest, dass der Graben zwischen Polen und Roma so tief und so sehr von diversen negativen Stereotypen und Vorurteilen besetzt sei, „dass das Hauptproblem für die Mehrheit wie für die Minderheit nicht so sehr in der Aufrechterhaltung der Grenze zwischen den Gruppen und der eigenen Identität besteht […], sondern vielmehr in der faktisch erzwungenen gesellschaftlichen Inklusion“ (S. 34).

Der Beitrag Nationale und ethnische Minderheiten in Polen. Ein Überblick von Andrzej Ka­lu­za und Peter Oliver Loew weist inhaltlich gewisse Überlappungen mit dem Beitrag von Lech M. Nijakowski auf, geht jedoch detaillierter auf die Situation der einzelnen Minderheiten ein und bietet ein hilfreiches Literaturverzeichnis zu den besprochenen Volksgruppen sowie der historischen und aktuellen Minderheitenpolitik Polens.

Marcin Wiatr schlägt in Deutsch sein in Polen einen Bogen von der Wendezeit, als polnische Medien die sich politisch formierende deutsche Minderheit in Oberschlesien „als Unruhestifter enttarnten“ (S. 62), bis in die Gegenwart dieser Region. Zeichnete sich die organisierte deutsche Minderheit dem Verfasser zufolge anfangs noch durch „[m]angelnde Dialogfähigkeit mit der polnischen Mehrheitsgesellschaft“ (S. 63) aus, so nahm das Konfrontationsdenken mit der Zeit ab. Wiatr thematisiert nicht nur ambivalente Entwicklungen wie die Arbeitsmigration Deutschstämmiger aus dem Oppelner Land nach Westeuropa (die einerseits Geldtransfers und eine verbesserte ländliche Infrastruktur zur Folge hatte, andererseits die Zerstörung familiärer Bindungen), sondern auch die Chancen, die Oberschlesien als Vorreiterregion für die Überwindung enger nationaler Kategorien (S. 71) hat.

Einen hervorragenden und auch unterhaltsamen Einblick in die Debatte über die Oberschlesier-Bewegung in Polen bietet Das Wesen des Oberschlesischen, der übersetzte Nachdruck eines 2012 geführten Streitgesprächs zwischen den Publizisten Michał Smo­lorz und Piotr Semka. Klar ersichtlich werden hier nicht zuletzt die kontroversen historischen Deutungsmuster, mit denen die Existenz einer oberschlesischen Nationalität entweder legitimiert oder abgelehnt wird: zum einen die Argumentation mit einer spezifischen Identität, die historisch aus der wechselseitigen Beeinflussung polnischer, deutscher und tschechischer Kultur entstanden sei, zum anderen die Ansicht, dass es sich bei der vermeintlichen oberschlesischen Spezifik lediglich um das Ergebnis einer oberflächlichen Germanisierung ethnischer Polen handele (S. 74).

Partei für den ‚proschlesischen‘ Standpunkt ergreift der Beitrag Eine neue Minderheit? Eigensinn und Traum der Oberschlesier von Zbigniew Kadłubek. Für den Verfasser geht es in der aktuellen oberschlesischen Bewegung nicht um Separatismus, sondern um Identitätsbildung und Emanzipation im Rahmen „einer engeren Integration in dem Staat, dem Oberschlesien heute angehört und dessen loyale Staatsbürger die Oberschlesier sind“ (S. 89).

Dem polnisch-jüdischen Verhältnis widmen sich zwei Beiträge. In Illegal im Reich der Geister. Jüdisches Leben im heutigen Polen beleuchtet Irena Wiszniewska den Umgang polnischer Juden mit der eigenen Familiengeschichte und skizziert die Debatte um polnischen Antisemitismus, die sich auch in aktuellen Filmen wie Ida und Pokłosie spiegelt. Wiegenlieder in Jiddisch ist ein ausführliches Interview mit der polnisch-jüdischen Schriftstellerin Bella Szwarcman-Czarnota, das biographische Einblicke in jüdisches Leben zur Zeit der Volksrepublik bietet.

In einem nachgedruckten Gespräch aus dem Jahr 2004 zeichnet der ukrainische Journalist und Politikwissenschaftler Bohdan Osadczuk das konfliktreiche polnisch-ukrainische Verhältnis in der Zwischenkriegszeit nach und bedauert in diesem Zusammenhang den geringen Einfluss des Teils der polnischen Eliten, die in den zwanziger Jahren an der ukrainischen Frage interessiert waren (S. 130).

Ist in Bezug auf dieses historische Thema zu verschmerzen, dass der entsprechende Beitrag bereits zwölf Jahre alt ist, so verwundert es, dass zur Lage der weißrussischen Minderheit in Polen ein Text aus dem Jahr 2001, Eine nationale Minderheit zu sein erfordert Charakter von Sokrat Janowicz, in den Band aufgenommen wurde. Auch wenn der 2013 verstorbene Janowicz der wohl bekannteste weißrussische Intellektuelle Polens war, wäre es interessant gewesen, hier einmal eine jüngere Stimme mit einer möglicherweise weniger pessimistischen Sicht auf die Lage dieser Minderheit zu vernehmen.

In ihrem Beitrag Zur Situation der Polonia in den Nachbarländern Polens geben Andriy Korniychuk, Anna Piłat und Justyna Segeš Frelak einen informativen Überblick über die polnischstämmigen Bevölkerungsgruppen in Deutschland, Tschechien, der Slowakei, den baltischen Staaten, Kasachstan, der Ukraine, Weißrussland sowie Russland und gehen gesondert auf die politische Debatte über die Repatriierung ein.

Verlassen wird der Rahmen der nationalen, ethnischen und religiösen Minderheiten in Beiträgen von Jan Sowa, Maciej Gdula und Joanna Erbel. In Das einsame Lebensgefühl stellt Jan Sowa fest, dass Polen heute „ein ödes und menschenleeres Land“ sei (S. 40). Dies macht er an mehreren Faktoren fest: dem Verlust von Millionen Menschen durch die Morde des 20. Jahrhunderts, dem „Fehlen“ (korrekter: geringen Bevölkerungsanteil) von Minderheiten, der Auswanderungswelle nach dem EU-Beitritt Polens, dem geringen Grad an Vertrauen unter den Bürgern, der Entfremdung von den Nachbarstaaten und der Verweigerungshaltung gegenüber sozialem und ökologischem Fortschritt (z. B. Gleichstellung Homosexueller, Aufnahme von Flüchtlingen, Ausstieg aus dem Kohleabbau). Inwieweit die vom Verfasser geübte Fundamentalkritik an der heutigen polnischen Gesellschaft berechtigt oder zu alarmistisch geraten ist, wird man je nach politischem Standpunkt unterschiedlich beurteilen.

Maciej Gdula bietet mit Freiheitliche Bewegungen in der jüngsten Geschichte Polens eine bedenkenswerte alternative Sichtweise zur Mainstream-Erzählung, welche die sozialen Bewegungen im Polen der siebziger und achtziger Jahre kanonisiert und deren Forderungen mit dem Systemwechsel von 1989 als weitgehend erledigt betrachtet hat.

Joanna Erbel beschreibt in ihrem Beitrag Auf dem Weg zur heterogenen Metropole. Öffentliche Kunst und Minderheitenkunst in Warschau anhand von Beispielen wie der Palme am De-Gaulle-Kreisverkehr, dem Denkmal für den Alkoholiker „Guma“ und einem Projekt im 2008 abgerissenen Stadion Dziesięciolecia neue partizipative Ansätze der öffentlichen Kunst in Warschau, die bisher ausgegrenzte Gruppen und Themen in den Mittelpunkt stellen.

Abgerundet wird der Band durch die Reportagen Reise in Ostpolen und Reise in Westpolen von Matthias Kneip, Auszüge aus gleichnamigen Buchveröffentlichungen, in denen der Autor einfühlsam und zugleich mit wohldosiertem Humor die – z. T. bereits untergehenden – Lebenswelten nationaler und ethnischer Minderheiten in Polen beleuchtet.

Insgesamt bietet das vorliegende Jahrbuch einen im positiven Sinne feuilletonistischen, d. h. nicht trocken enzyklopädischen Einblick in ‚Minderheitenthemen‘ des heutigen Polen. Zur angenehmen Lesbarkeit tragen auch die humorvollen Illustrationen von Joanna Fur­galińska bei.

Mark Brüggemann, Oldenburg

Zitierweise: Mark Brüggemann über: Jahrbuch Polen 27 (2016): Minderheiten. Hrsg. vom Deutschen Polen-Institut, Darmstadt. Wiesbaden: Harrassowitz, 2016. 231 S., 74 Abb. ISBN: 978-3-447-10557-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Brueggemann_Jahrbuch_Polen_27_2016_Minderheiten.html (Datum des Seitenbesuchs)

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