Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Karsten Brüggemann

 

Warlands. Population Resettlement and State Reconstruction in the Soviet-East European Borderlands, 1945–50. Ed. by Peter Gatrell and Nick Baron. Houndmills, Basingstoke, Hampshire: Palgrave Macmillan, 2009. XV, 276 S., 3 Ktn., 2 Tab. ISBN: 978-0-230-57601-8.

Der Zweite Weltkrieg führte zu Bevölkerungsverschiebungen, die auf beiden Seiten des allmählich fallenden Eisernen Vorhangs unter Kontrolle gebracht und organisiert werden mussten. Diese Sammlung von zehn Aufsätzen sowie einem einleitenden Kapitel von Peter Gatrell und einem zusammenfassenden Ausblick beider Herausgeber führt ein in die diversen Mechanismen und Prozesse, mit denen sich die jeweils zuständigen Behörden dieser Aufgabe widmeten, nicht zuletzt um ihre Macht über die Rekonstruktion staatlicher Strukturen zu behaupten und die zukünftige Zusammensetzung der Bevölkerung zu lenken. Deutlich wird dabei vor allem, dass sich die grundsätzlichen Praktiken in Ost und West kaum unterschieden. Die Schauplätze der einzelnen, meist auf Archivmaterialien aufbauenden Fallstudien reichen von den Flüchtlingslagern in den alliierten Besatzungszonen, unter deren Insassen die Litauer (Tomas Balkelis) und Letten (Aldis Purs), und unter deren Administrativpersonal die Quäker (Jenny Carson) näher betrachtet werden, über sowjetische Filtrationslager (Nick Baron), das befreite Leningrad (Siobhan Peeling) und die Armenische SSR (Joanne Laycok) bis zu den diversen Bevölkerungstransfers zwischen Oder und Bug (Kateryna Stadnik, Konrad Zielinski, Ewa Ochman). Ein Aufsatz von Meike Wulf zum Umgang mit der Weltkriegsvergangenheit Estlands, erarbeitet anhand von Gesprächen mit Historikern, fällt demgegenüber konzeptionell stark aus dem Rahmen.

Mit Recht betont Balkelis, dass die DP-Lager auf deutschem Boden Orte intensiver politischer Interventionen waren. In den ersten Monaten nach Kriegsende sollte das Flüchtlingsproblem durch massive Repatriierung gelöst werden, bis nach und nach sich die Einsicht durchsetzte, dass niemand gegen seinen Willen in den sowjetischen Machtbereich abgeschoben werden solle. Trotzdem wurden die Insassen weiter „gescreent“, und es gab weiterhin Besuche sowjetischer Offizieller, die für die Rückkehr in die Heimat warben. Interessant ist aber vor allem Balkelis’ Einblick in die Lagerwirklichkeit am Beispiel der Litauer, unter denen selbst diejenigen, denen weniger an der Bewahrung einer speziell konditionierten litauischen nationalen Identität gelegen war, sich dem Nationalisierungsdruck der alten Eliten hätten beugen müssen. Deutlicher noch zeigt Purs anhand der lettischen DPs, inwieweit die politischen Auseinandersetzungen mit dem autoritären Regime der Vorkriegszeit in die Lager hineingetragen wurden. Beide Autoren sehen die kulturellen Anstrengungen der Balten, die immerhin einen erfolgreichen Schul- und Kulturbetrieb ermöglichten, als Ausdruck einer anvisierten ethnischen Homogenität. Dem stehe die kollektive moralische Verurteilung etwa der außerehelichen Affären von Frauen gegenüber, deren Männer vermisst oder tot waren, da dieses Verhalten mehr oder weniger bewusst als Ablehnung der jeweiligen nationalen Führung erkannt wurde, in dem sich nicht zuletzt auch unabhängige Überlebensstrategien zeigen konnten. Diesem unter Balten wie Polen und Ukrainern spürbaren „competetive nationalism“ standen die ca. 30 in Deutschland tätigen Quäker, wie Carson zeigt, bei aller Bewunderung für die kulturellen Leistungen eher hilflos gegenüber. Ihr Bestreben, einen „spirit of internationalism“ zur Überwindung der nationalen Konfrontation zu initiieren, führte zu der resignierten Erkenntnis, dass die Liebe zur Kultur die Menschen nicht notwendigerweise zusammenführte.

Der Filtrationsprozess von Sowjetbürgern bei ihrer Rückkehr entsprach nach Ansicht Barons einer verschärften Grenzkontrolle. Der Staat wollte sich eine gefilterte Bevölkerung mit entsprechenden Lebensläufen schaffen – eine Form des „screening“, die Normalität kreieren sollte. Zugleich hatte sie neben exklusiven auch inklusive Funktionen. Vor allem der Autobiographie kam die Rolle eines zentralen Instruments bei der Produktion kompatibler Identitäten zu, wobei es auf Glaubwürdigkeit, nicht auf Wahrheit ankam. Baron zufolge seien nur 6,5 % (ca. 350.000) aller Rückkehrer sofort festgenommen und in Arbeitslager oder die Verbannung geschickt worden, während 60 % in ihre Heimatorte zurückkehren konnten (S. 105).

Anhand des besonderen Fallbeispiels der Repatriierung der Armenier – bis 1949 kehrten mehr als 100.000 Armenier, die zum Teil bereits seit dem Ersten Weltkrieg im Ausland lebten, in die sowjetische „Heimat“ zurück – zeigt Laycok die enttäuschten Erwartungen beider Seiten. Repatriiert wurden vor allem junge, arbeits- und reproduktionsfähige Armenier, von denen sich Moskau einen Beitrag zum Wiederaufbau der Sowjetrepublik erwartete. Indes war diese Gruppe alles andere als sozial oder politisch homogen und sie wurde keineswegs einhellig begrüßt. Ihre Auslegung armenischer Kultur machte sie dem Spätstalinismus verdächtig und ließ manche von ihnen Opfer von Deportationen werden. Seit Stalins Tod wurden ihre Ausreiseanträge wieder akzeptiert.

Derartige ‚Reinigungsprozesse‘ der sowjetischen Nachkriegszeit galten aber nicht nur den Rückkehrern. Peeling untersucht den Mythos einer speziellen „Leningrader Kultur“ aus der unmittelbaren Nach-Blockadezeit, mit dessen Hilfe sich die Gruppe der Überlebenden eine exklusive Identität geschaffen habe. Ausgeschlossen waren die Neuankömmlinge, die als Bedrohung für die Gesundheit und Reinheit der Stadt angesehen wurden – und damit auch als Bedrohung für das Konstrukt der heroischen Verteidigung einer zivilisierten urbanen Gemeinschaft. Diese diskursive Praxis macht Peeling an Leserbriefen und an den Entscheidungen der Stadtführung in Bezug auf die ca. 1,5 Millionen zugereisten Mitbürger deutlich. Städtische Maßnahmen zur Wiederherstellung der im Krieg zerstörten sanitären Reinheit der Stadt seien mit der Angst vor der Kontamination des städtischen Raumes durch die Unkultiviertheit der Zuwanderer begründet worden und hätten sich den Mythos der im Krieg gereinigten Gesellschaft zunutze gemacht.

Die ethnische Homogenisierung Nachkriegspolens in ihren ukrainischen (Stadnik), polnischen (Zielinski) und oberschlesischen Dimensionen (Ochman) wird in drei thematisch miteinander verbundenen Texten behandelt. Bereits vor der Akcja Wisła waren 483.000 Ukrainer aus Polen in die UdSSR und knapp 800.000 Polen in der umgekehrten Richtung umgesiedelt worden, oft genug in Gebiete, aus der die deutsche Bevölkerung vertrieben worden war. Angesichts dieser und anderer ethnischer Säuberungen macht Zielinski eine Parallele zur Nationalitätenpolitik der Zwischenkriegszeit aus, die auf die Assimilation oder die Vertreibung der ethnischen Minderheiten abzielte: 1949 sei deren Ziel eines monolithischen Nationalstaats erreicht worden.

In den abschließenden Ausführungen Ochmans zur Erinnerung an die Deportation der Oberschlesier in die UdSSR klingt bereits Wulfs Thema der gesellschaftlichen Bewältigung kollektiver traumatischer Erlebnisse an. Warum in ihrem Text eklatante Fehler wie die Behauptung, die sowjetische Deportation von 1941 habe eine Woche nach dem Beginn des „Unternehmens Barbarossa“ stattgefunden (S. 233), oder die um ein Dreifaches überhöhte Zahlenangabe der 1949 deportierten estnischen „Kulaken“ (S. 234) nicht korrigiert werden konnten, bleibt rätselhaft. Anhand von lebensgeschichtlichen Interviews mit 31 Historikern diverser Altersgruppen, davon 11 aus dem Exil stammend, filtert sie Narrative der Hoffnung und des Verlusts, der Reinheit und der Verschmutzung sowie der Überschreitung und der Rückkehr heraus, ohne diese explizit etwa an die Werke ihrer Respondenten anzubinden. So bleibt der Eindruck einer gewissen Willkürlichkeit in der Anwendung modernen wissenschaftlichen Instrumentariums.

Abschließend weisen die Herausgeber auf Forschungsfelder hin, die einer weiteren Bearbeitung harren – Religion als Stimulus, Stigmatisierung von Frauen, Visualisierung des „Flüchtlings“ etc. Insgesamt bietet der Band einen gelungenen Ausgangspunkt für weitere Studien, wobei Fallbeispiele aus anderen Regionen wie auch größere Synthesen denkbar wären.

Karsten Brüggemann, Tallinn

Zitierweise: Karsten Brüggemann über: Warlands. Population Resettlement and State Reconstruction in the Soviet-East European Borderlands, 1945–50. Ed. by Peter Gatrell and Nick Baron. Houndmills, Basingstoke, Hampshire: Palgrave Macmillan, 2009. XV, 276 S., 3 Ktn., 2 Tab. ISBN: 978-0-230-57601-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Brueggemann_Gatrell_Warlands.html (Datum des Seitenbesuchs)

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