Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Christiane Brenner

 

Marketa Spiritova: Hexenjagd in der Tschechoslowakei. Intellektuelle zwischen Prager Frühling und dem Ende des Kommunismus. Köln [etc.]: Böhlau 2010. 385 S. ISBN 978-3-412-20437-2.

Unter dem Titel „Hexenjagd in der Tschechoslowakei“ hat Marketa Spiritova die Druckfassung ihrer 2007 verteidigten Dissertation vorgelegt. Ziel des Buches ist es, auf der Grundlage von Ego-Dokumenten die Lebenswelten aus politischen Gründen verfolgter Intellektueller in der Tschechoslowakei nach 1968 zu rekonstruieren und so „aus volkskundlicher Perspektive heraus die Sozialgeschichte zu bereichern“ (S. 20). Das Ergebnis, das 2009 mit dem Dissertationspreis des Schroubek Fonds Östliches Europa ausgezeichnet wurde, hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck: In das Leben und den Alltag tschechischer Intellektueller, die sich in der zweiten Reihe oder am Rande der Dissidentenszene bewegten, gibt die Arbeit in der Tat einen tiefen Einblick. Die Verbindung zu den sozialgeschichtlichen Debatten der letzten 1015 Jahre, die sie erklärtermaßen „bereichern“ will (S. 20), nimmt sie aber nicht auf, vielmehr bleibt sie traditionellen Deutungen verhaftet und vergibt dabei auch analytisches Potenzial.

Doch zunächst zum Inhalt des Buches: Spiritova hat Interviews mit Männern und Frauen geführt, die wegen ihres Engagements für den Reformsozialismus in den 1960er Jahren und wegen ihrer Weigerung, sich nach 1969/70 dem Normalisierungsregime unter Gustav Husák zu beugen, Repressionen ausgesetzt waren. Als entscheidender und folgenreichster Bruch erwies sich dabei der Verlust des qualifizierten Arbeitsplatzes. Er zwang die Entlassenen nicht nur, sich andere, weniger erfüllende Arbeit zu suchen, sondern zog auch materielle Not und soziale Isolation nach sich. Auf einfachste, oft körperlich sehr schwere und dennoch ständig bedrohte Jobs angewiesen, sahen sich die Intellektuellen im Kern ihres Selbstverständnisses angegriffen. Spiritova zeichnet verschiedene Strategien nach, mit dieser tiefen Krise umzugehen, wobei sie einerseits den Zeitraum zwischen den frühen 1970er Jahren und 1989 in drei Phasen einteilt, andererseits nach Fallhöhe, Generationszugehörigkeit und Geschlecht der Befragten unterscheidet. Sie zeigt, dass auf die erste, mühsame Zeit der Arbeitssuche ab Mitte der 1970er Jahre eine Phase der Konsolidierung folgte, in der zumindest in der Freizeit intellektuelle Arbeit wieder möglich wurde, um schließlich für die Jahre nach der Gründung der Charta 77 ein wachsendes Netzwerk von Verbindungen und alternativen Öffentlichkeiten zu beschreiben, in denen die Intellektuellen nicht länger nur zum Selbstzweck, sondern auch in bürgerrechtlichen und oppositionellen Angelegenheiten kommunizierten und publizierten. Diese Chronologie illustriert die Autorin mit den Stimmen ihrer Interviewpartner und Interviewpartnerinnen: Was Repression und Ausgrenzung konkret bedeuteten, wie sich der Arbeitsalltag und die Beziehungen am Arbeitsplatz für die Verfolgten gestalteten und welche zentrale, ja existenzielle Bedeutung die Tätigkeit in den unabhängigen Strukturen für sie hatte, erfahren wir hier an vielen Beispielen. Besonders interessant sind dabei die geschlechtsspezifischen Unterschiede: Während die meisten Männer jede freie Minute für ihre wissenschaftliche oder literarische Arbeit nutzten, investierten Frauen vor allem in die Versorgung und den Erhalt der Familie. Exponierten sich die Männer in der zweiten Öffentlichkeit, wirkten die Frauen eher im Hintergrund, indem sie z. B. für Samizdatreihen Texte abtippten oder deren Distribution übernahmen. Spiritova spricht in diesem Zusammenhang von einer Retraditionalisierung von Rollenmustern, warnt aber zugleich davor, das Selbstbewusstsein dieser Botengänge erledigenden und „Schnittchen und Wein“ servierenden „Mädels“ (S. 342) aus einer westlichen Perspektive vorschnell zu unterschätzen.

Entsteht so eine lebendige Erzählung von der Alltagsrealität verfolgter und degradierter Intellektueller, der Spiritova immer wieder Reflexionen ihrer eigenen Rolle als Interviewerin, aber auch typischer Erinnerungs- und Erzählmuster zur Seite stellt, versagt ihre kritische Distanz, wo es um den historischen bzw. zeitgenössischen politischen Kontext geht. Sie stützt sich im Wesentlichen auf Deutungen, die von tschechischen Intellektuellen im Dissens, im Exil und in den ersten Jahren nach dem Umbruch von 1989 vorgelegt wurden, und reproduziert damit letztlich auch die Sicht ihrer Gesprächspartner. Verstärkt wird dieser Effekt beispielsweise im Abschnitt über den „Prager Frühling“ durch die zahlreichen Zitate aus ebendieser Literatur. So erscheinen Topoi wie die demokratische Tradition der Masarykschen Ersten Republik, die in der liberaleren Atmosphäre der 1960er Jahre wieder aufgelebt sei (S. 72), als Tatsachen – und nicht als Narrative, die und deren Bedeutung für die Vorstellungswelt und die eigene biografische Konstruktion der befragten Intellektuellen es zu untersuchen gegolten hätte. Vor allem aber fällt Spiritova mit dem Bild eines durch einen „Gesellschaftsvertrag“ ruhiggestellten Landes, in dem während der Normalisierung „zwei zueinander in Aporie stehende Normensysteme“ (S. 86) geherrscht hätten, deutlich hinter den Stand der Debatten der letzten Jahre zurück. Zwar deutet sie an mehreren Stellen an, dass eine scharfe Trennung der verschiedenen Sphären von Gesellschaft und Öffentlichkeit nicht aufrechtzuerhalten sei. Doch führt sie den Gedanken nicht weiter zu der Frage, welche Effekte die Überlappung und Vermischung von Sphären hervorrief und inwiefern (Teile der) Ideologie möglicherweise auch verinnerlicht und offizielle Deutungsangebote für die eigene Alltagsbewältigung genutzt wurden. Wo von „Eigensinn“ die Rede ist, wird dieser verflacht auf „vom System abweichende Verhaltensweisen“ (S. 8687). Der Mangel besteht nicht in erster Linie darin, dass die Arbeit den Forschungsstand in der Sozialgeschichte von etwa MitteEnde der 1990er Jahre präsentiert, sondern darin, dass damit Interpretationsmöglichkeiten verschenkt wurden. Spiritovas Interviewpartner – die männlichen zumal – erklären ihr Leben und legitimieren ihr Handeln sehr stark aus der Geschichte. Gerade darum wäre es wichtig gewesen, Vorstellungen wie die von der Zweiteilung der Gesellschaft nach 1948, rein taktisch motivierter Parteimitgliedschaft in den 1960er Jahren, der völligen Entwertung der sozialistischen Ideologie nach 1968, der binären Opposition von Ideologie und ‚eigentlichen‘ Ansichten seit den 1970er Jahren etc. danach zu befragen, welche Funktion sie in der Lebenserzählung der Befragten einnehmen.

Spiritova hat in ihren Interviews auch danach gefragt, wie das Leben ihrer Gesprächspartner unmittelbar nach dem Umbruch vom November 1989 weiterging, und erfahren, dass dieser Bruch ein erneutes Überdenken von Lebensstrategien erforderte, was nicht allen leicht fiel und was Alltagsrealitäten mit sich brachte, die auch mit Verlustgefühlen verbunden waren. Bedauerlich ist, dass die Autorin nichts über den zeitgenössischen Kontext sagt, in dem die Interviews geführt wurden. Zwar ist sich Spiritova sehr bewusst, dass ihre Gesprächspartner eine gefilterte Erinnerung präsentieren, für die nicht nur die Notwendigkeit, eine sinnerfüllte Lebensgeschichte zu konstruieren, sondern auch das kollektive Gedächtnis eine Rolle spielt. Doch was der antikommunistische Konsens, der in Tschechien herrscht, die Abwertung der Dissidenten und das 1968er-Bashing in den öffentlichen Debatten seit dem Ende der 1990er Jahre für die biografischen Erzählungen der Interviewten bedeuten, kann man nur erahnen – z. B. in den Passagen, in denen das sensible Thema der Parteizugehörigkeit angesprochen wird.  

Marketa Spiritovas Buch über die verfolgten und an den Rand der Gesellschaft gedrängten Intellektuellen vermittelt uns nicht nur viele Einsichten über das Leben in der Tschechoslowakei der „Normalisierungszeit“, sondern auch einen Blick in ein Milieu, das mit dem Ende dieser Zeit verschwunden ist. Es ist gut geschrieben und zeichnet sich durch einen reflektieren Umgang mit Begriffen aus. Der Beitrag zur sozialgeschichtlichen Kommunismusforschung durch die Ergänzung um eine kulturelle Dimension (S. 14) wäre aber größer ausgefallen, hätte Spiritova die Ansätze dieser Forschung genutzt, um mehr Distanz zu den Narrativen ihrer Gesprächspartner zu gewinnen.

Christiane Brenner

Zitierweise: Christiane Brenner über: Marketa Spiritova: Hexenjagd in der Tschechoslowakei. Intellektuelle zwischen Prager Frühling und dem Ende des Kommunismus. Köln [etc.]: Böhlau 2010. 385 S. ISBN 978-3-412-20437-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Brenner_Spiritova_Hexenjagd.html (Datum des Seitenbesuchs)

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