Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Sebastian Brather

 

Heike Reimann / Fred Ruchhöft / Cornelia Willich †: Rügen im Mittelalter. Eine interdisziplinäre Studie zur mittelalterlichen Besiedlung auf Rügen. Stuttgart: Steiner, 2011. 355 S., Abb., Ktn., Graph. = Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa, 36. ISBN: 978-3-515-09441-2.

Im ersten Kapitel folgt auf ein Resümee von Quellenlage und Forschungsstand die Charakterisierung von Natur- und Siedlungsraum der gut 900 km² großen Ostseeinsel, bevor die Anfänge der frühmittelalterlichen Besiedlung in einer kritischen Übersicht skizziert werden. Wohl zu Recht plädieren die Autorinnen und der Autor für eine anfangs schüttere Aufsiedlung erst im 9. Jahrhundert. Mit derSchlacht an der Raxa“ 955 wurden dieRügenslawen(Ruani) erstmals genannt, und als dieser Fluss wird nun die Elde ausgemacht (S. 15 allerdings noch traditionell mit der Recknitz gleichgesetzt).

Fast 100 Seiten umfasst das zweite Kapitel zur Geschichte der Insel im Mittelalter, das in drei Abschnitte gegliedert ist: Kirche, Herrschaft, Besiedlung. Zunächst geht es um die Entwicklungvon paganen Heiligtümern zu christlichen Kirchen, als im späten 12. Jahrhundert die ersten elf oder zwölf Kirchen an die Stelle von Kultorten wie Arkona traten. Mehr als ein Jahrhundert später war die nun flächendeckende Kirchenstruktur deutlich verändert. DerGlaubenswechsel‘ ist wie stets nur schwer zu fassen, dennoffiziell‘ waren die Bewohner Rügens nahezu augenblicklich Christen, und Klerikern blieben manche ländlichen Vorstellungen noch lange als heidnisch verdächtig. Was kannChristianisierungaus wissenschaftlicher Sicht also heißen?

Orte mit zentralen Funktionen wurden seit dem 12. Jahrhundert zahlreicher, doch dominierte das festländische Stralsund die Insel. Dass es neben derTempelburg“ Arkona im hohen Mittelalter lediglichFluchtburgen“ gegeben habe, würde man gern durch archäologische Befunde gestützt sehen; in Charenz gab es drei Tempel, so dass dort ständig Menschen gelebt haben. Unklar bleibt die Feststellung, dassdie Burg Arkona eindeutig kein Machtzentrum der Rügenfürsten, sondern Hauptburg der Rügenslawen war(S. 95)dort dominierten doch wohl Priester? In den Jahrzehnten um 1200 etablierten sich die Fürsten, die nun nicht mehr wie noch vor 1168 als reges tituliert wurden und sich ab 1260 überwiegend in Stralsund aufhielten. In der Formulierung,der ethnische Stamm der Rügenslawen [sei im Unterschied zur politischen Herrschaft] auf die Inselbeschränkt gewesen (S. 102), wird ein Unterschied suggeriert, doch auch Ethnien sind immer primär politische Gebilde. Kurz vor 1200 gehörten dieBezirke‘ Tribsees und Barth, deren Grenzen sich erst später genauer fassen lassen, zur rügenschen Herrschaft. Dort gingen den Verfassern zufolge die Vogteien auf die Frühzeit zurück, während sie auf der Insel erst um 1300 entstandenund sich, wie weiter unten dargelegt, sich an dengroßen natürlichen Grenzzonenorientierten (S. 165 f.).

Die Siedlungsdichte wird als Anzahl von Siedlungen pro Fläche ermittelt, wodurch sich ein vergleichsweise hoher Wert ergibt; das spiegelt vor allem die Existenz vieler sehr kleiner Siedlungen wider und keineswegs eine hohe Bevölkerungsdichte. Geschlossene Dörfer sind insgesamt selten auf Rügen und dann meist Kirchdörfer. Aus dem 14. Jahrhundert ist eine Reihe von Orten mit gemeinsamer Ackerflur bekannt, was durch Siedlungsteilung beim Landesausbau erklärt wird. Dass von vielen Orten Funde des 10. Jahrhunderts vorliegen (S. 125, Abb. 30), muss man nicht als Platzkontinuität der Siedlungen begreifen (explizit jedoch S. 219). Es schließt sich eine Erläuterung der 600, meist im frühen 14. Jahrhundert genannten Ortsnamen an, von denen 85 % slawisch warenmehr als doppelt so häufig wie auf dem Festland. Das Land wurde von Blockfluren geprägt, die in Hufen vermessen und deren Abgaben inHaken“ eingezogen wurden. Wüstungen entstanden weit überwiegend durch Konzentrationsprozesse beim Landesausbau. Interessant, wenngleich hypothetisch bleiben Überlegungen zur Bevölkerungszahl, die Ende des 16. Jahrhunderts etwa 15.000 und um 1500 ca. 10.000 betragen habe; erst in der Zusammenfassung werden für die Zeit um 1000 ca. 4.000 und für das 9. Jahrhundert einige hundert genannt (S. 309).

Den zweiten Teil des Buchs bilden Regionalstudien zu den drei Vogteien Garz, Schap­rode und Jasmund. Diese Auswahl wird im Vorwort allgemein mit denoptimale[n] Bedingungenbegründet,um verschiedene Aspekte der Siedlungsentwicklung auf Rügen repräsentativ zu untersuchen(S. 11), ohne dass diese Bedingungen genauer charakterisiert würden. Die Verfasser plädieren dafür, Garz nicht wie bislang üblich mit dem seit etwa 1168 erwähnten Herrschaftsmittelpunkt Charenz zu identifizieren, sondern letzteren wohl in der Gemarkung Wall bei Venz zu suchen. Ebenso wird nun die im frühen 14. Jahrhundert genannte civitas nova mit Rugendal gleichgesetzt, das nach Garz verlegt worden sei. Für Schaprode mit gut 1 km östlich gelegener hochmittelalterlicher Hafensiedlung werden dieRügenslawen als Seefahrernationmit eigenerFlotte(S. 211) apostrophiert, was die Verhältnisse recht holzschnittartig beschreibt. Anhand einiger Beispiele lässt sich zeigen, wie sich Textüberlieferung und archäologische Prospektion zur Wüstungsforschung kombinieren lassen. Ebenso wie um Schaprode spielten Adelsgeschlechter auf der Halbinsel Jasmund eine wichtige, überwiegend erst in der frühen Neuzeit genauer fassbare Rolle. In allen drei Fällen werdenVerzeichnis[se] der mittelalterlichen Siedlungenmit Namenerklärung und archäologisch-historischen Angaben präsentiert, die (lediglich) die namentlich bekannten Orte enthalten (insgesamt fast 250 Orte auf ca. 100 Seiten).

In der Zusammenfassung betonen die Verfasser zwei Besonderheiten des Landesausbaus auf Rügen: wenig Zuwanderung und kaum Umgestaltung der Landschaft. Quellen- und Literaturverzeichnis, Zeittafel und Ortsregister runden den Band ab. Zahlreiche Karten bieten sehr hilfreiche Orientierung, doch sind Signaturen oft zu klein oder zu kompliziert geraten, oder die Karten verzichten auf den topographischen Hintergrund.

Der Band bietetanders als der Titel suggeriertkeine Geschichte Rügens im Mittelalter, sondern eine Analyse derVorgänge des hochmittelalterlichen Landesausbaues und seiner bestimmenden Faktoren(Vorwort S. 10). Dabei handelt es sich auch nicht um einen Vorgang, sondern um Entwicklungen zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichen Kontexten. Archäologische Quellen zeigen eine erhebliche Siedlungsverdichtung in den Jahrzehnten um 1000 an, wenngleich die zugrundeliegende Rekonstruktion der Keramikentwicklung noch weiterer Diskussion bedarf. Und am Ende des Hochmittelaltersoder im Falle Rügen wohl präziser im ausgehenden Hoch- und im beginnenden Spätmittelalter (13./14. Jahrhundert)gab es einen zweiten Ausbauschub, der jedoch nur zu geringen Umgestaltungen von Siedlungs- und Flurformen führteanders als etwa imfestländischenPommern und Mecklenburg. Was machte dann den Landesausbau eigentlich ausUmstrukturierung von Herrschaft und Etablierung der Kirche? Archäologisch ist der Band auch bei Querverweisen auf dem aktuellen Stand, doch fehlen dem archäologisch nicht versierten Leser hilfreiche Literaturangaben (etwa S. 94 zur Datierung von Brandenburg und Spandau). Insgesamt darf das gemeinsame Verfassen durch Historikerin, Namenkundlerin und Archäologen als gelungen gelten, auch wenn der Band aus mehreren, etwas unverbundenen Teilen besteht und die Vielzahl an interessanten Teilergebnissen dabei etwas untergeht.

Sebastian Brather, Freiburg

Zitierweise: Sebastian Brather über: Heike Reimann / Fred Ruchhöft / Cornelia Willich †: Rügen im Mittelalter. Eine interdisziplinäre Studie zur mittelalterlichen Besiedlung auf Rügen. Stuttgart: Steiner, 2011. 355 S., Abb., Ktn., Graph. = Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa, 36. ISBN: 978-3-515-09441-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Brather_Reimann_Ruegen_im_Mittelalter.html (Datum des Seitenbesuchs)

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