Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  4 (2014), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Alexander Brakel

 

Leonid Rein: The Kings and the Pawns. Collaboration in Byelorussia during World War II. New York, Oxford: Berghahn Books, 2011. XXIII, 434 S. = Studies on War and Genocide, 15. ISBN: 978-1-84545-776-1.

Die Erinnerung an den Holocaust bezeichnete der britische Historiker Tony Judt alsunsere zeitgenössische europäische Eintrittskarte(Tony Judt: Postwar. A History of Europe since 1945. London 2006, S. 1128). Dazu gehört für Judt nicht nur das Gedächtnis an die Opfer, sondern auch das Anerkenntnis, dass der Kreis der Täter nicht auf wenige NS-Größen beschränkt war, sondern sich über viele Hunderttausende von Helfern aus den unterschiedlichsten Ländern Europas erstreckte. In diesem Zusammenhang hat die Erforschung derKollaborationmit den Nationalsozialisten einen neuen Schub erhalten. Der Barbie-Prozess in Frankreich oder die Debatte über das BuchNachbarnin Polen markieren wichtige Meilensteine auf diesem Weg.

In der autokratisch regierten Belarus steht eine vergleichbare Debatte noch aus. Die historische Forschung in diesem Land beschäftigt sich jedoch schon seit geraumer Zeit mit diesem Phänomen. Zu nennen sind hier beispielsweise die Arbeiten von Aleksej Litvin. Auffallend ist jedoch auch, dass viele der Impulse von belarussischen Historikern aus dem Ausland gesetzt werden, wie etwa von dem in Polen lebenden Juri Turonak. Auch die vorliegende Arbeit fällt in diese Kategorie: Leonid Rein wurde zwar in der Belorussischen Sowjetrepublik geboren, lebt und arbeitet jedoch bereits seit vielen Jahren in Israel. Er tritt an mit dem Anspruch, eine Gesamtdarstellung derKollaborationmit den deutschen Besatzern in Weißrussland vorzulegen.

Dazu beginnt er seine Ausführungen mit einem breiten, problemorientierten Abriss der unterschiedlichen Formen von Zusammenarbeit zwischen Besatzern und Besetzten im Zweiten Weltkrieg. Das ist intuitiv, greift jedoch an mancher Stelle zu kurz, vor allem, weil Rein es versäumt, die mangelnden Opportunitäten der Zusammenarbeit zu erläutern. Der ebenfalls vorab vorgenommene Überblick über die unterschiedlichen europäischen Länder bietet eine kenntnisreiche Zusammenschau, hätte jedoch zusammen mit einem Resümee der Ereignisse in Weißrussland im Anschluss an die Hauptuntersuchung an Interpretationskraft gewonnen.

An diese Einführung schließt sich ein Überblick über die deutsche Besatzungspolitik an, ehe Rein dann im Hauptteil die unterschiedlichen Bereiche und Formen der Zusammenarbeit mit den Besatzern beschreibt. All dies erfolgt auf Grundlage einer an keiner Stelle begründeten und wenig überzeugenden Quellen- und Literaturauswahl. Auf die Nutzung belarussischer Archivalien verzichtet der Verfasser fast vollständig. Statt die wichtigsten Archive des Landes aufzusuchen, greift er ausschließlich auf in Yad Vashem liegende Kopien zurück, was selbst angesichts der dortigen reichhaltigen Bestände nicht ausreichend ist. Aber auch insgesamt dienen die Quellen, die größtenteils aus dem Bundesarchiv stammen, eher der Unterstreichung oder Detaillierung, denn als eigentliches Fundament der Studie. Diese stützt sich in allererster Linie auf Forschungsliteratur, ohne diese jedoch systematisch auszuwerten. So fehlen wichtige Arbeiten wie die von Aljak­sandr Kavalenja über das Weißruthenische Jugendwerk (Prahermanskija sajuzy moladzi na Belarusi. 1941–1944. Vytoki, struktura, dzejnasc’. Minsk 1999) oder von Ėdmund Jarmusik über die katholische Kirche (Katoličeskij kostel v Belorussii v gody Vtoroj mirovoj vojny (1933–1945). Grodno 2002). Die unzureichende Beschäftigung mit der Forschungslage führt in einigen Fällen zu inzwischen widerlegten Pauschalurteilen, wie etwa der Behauptung, zwischen Polen und Belarussen sei es zu einemfully fledged wargekommen. (S. 306)

Noch schwerer fällt allerdings der weitgehende Verzicht auf eigenständige Analyse. Die Motive derKollaborateureund ihre Handlungsspielräume werden kaum beleuchtet. Die Frage, welche Bedeutung derKollaborationfür die deutsche Besatzung und Kriegführung tatsächlich zukam, wird an keiner Stelle auch nur gestellt, geschweige denn beantwortet. Lediglich im Kapitel zur Haltung der Kirche versucht sich Rein an einem abwägenden Urteil. Im Kapitel über die Okkupationspresse unternimmt er zumindest anhand eines Fallbeispiels eine eigene Untersuchung, die es ihm ermöglicht, die Position der einheimischen Unterstützer der Besatzungsmacht etwas klarer werden zu lassen. Ansonsten übernimmt er die Urteile anderer Historiker, die ermüdend häufig im Text selbst genannt werden. In den meisten Fällen stützt er sich dabei auf die Standardwerke von Bernhard Chiari (Alltag hinter der Front. Besatzung, Kollaboration und Widerstand in Weißrußland 1941–1944. Düsseldorf 1998), Aljaksej Litvin (Akupacyja Belarusi (1941–1944). Pytanni supracivu i kalabaracyi. Minsk 2000) oder Jurij Turonak (Białoruś pod okupacją niemiecką. Warszawa, Wrocław 1989).

Vor diesem Hintergrund kann das vorliegende Werk nur demjenigen empfohlen werden, der sich ohne größere Vorkenntnisse einen Überblick über die Formen derKollaborationin Belarus verschaffen will. Mit ein wenig mehr Zeitaufwand wird er jedoch durch die Lektüre der oben genannten Standardwerke einen deutlich profunderen Einstieg in die Materie erhalten.

Alexander Brakel, Berlin

Zitierweise: Alexander Brakel über: Leonid Rein: The Kings and the Pawns. Collaboration in Byelorussia during World War II. New York, Oxford: Berghahn Books, 2011. XXIII, 434 S. = Studies on War and Genocide, 15. ISBN: 978-1-84545-776-1, http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Brakel_Rein_The_Kings_and_the_Pawns.html (Datum des Seitenbesuchs)

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