Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Nada Boškovska

 

Ludwig Steindorff (Hrsg.): Religion und Integration im Moskauer Russland. Konzepte und Praktiken, Potentiale und Grenzen. 14.–17. Jahrhundert. Wiesbaden: Harrassowitz, 2010. 527 S., Abb., Tab. = Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 76. ISBN: 978-3-447-06116-2.

Inhaltsverzeichnis:

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Der Band, hervorgegangen aus der X. internationalen Konferenz zur altrussischen Geschichte, die im Mai 2008 in Kiel abgehalten wurde, umfasst nebst der Einleitung 22 Beiträge in deutscher, russischer, englischer und französischer Sprache, unterteilt in vier Bereiche: weltliche und geistliche Gewalt; Umgang mit religiöser Verschiedenheit; Diskurse um Orthodoxie; religiöse Praxis und Alltag im Moskauer Reich. Das wichtigste Anliegen der Tagung war, das Integrationspotential von Religion, insbesondere der Orthodoxie, im Moskauer Reich zu untersuchen.

Angesichts der Fülle von Beiträgen kann es nicht darum gehen, alle vorzustellen, zumal nicht alle den Integrationsaspekt gleichermaßen berücksichtigt haben. Es sollen vielmehr anhand von Beispielen einige Erkenntnisse hervorgehoben werden. Die Aufsätze von Pierre Gonneau, Michail Krom, Andrej Pavlov, Georg Michels und Gail Lenhoff thematisieren die enge Verbindung zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt im Moskauer Reich. Diese wird ersichtlich, wenn Gesetzesänderungen mit Berufung auf die Kirchenväter in die Wege geleitet werden oder darin, dass dieStepennaja kniga“ gleichermaßen Ivan IV. legitimierte wie sie das Čudov-Kloster mit Prestige ausstattete. Und ohne Zweifel kam die Einrichtung des Patriarchates im Jahr 1589 der weltlichen wie der geistlichen Machtsicherung zugute. Die enge Verbindung zwischen geistlicher und weltlicher Herrschaft erlebte einen Höhepunkt in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, als Patriarch (Filaret) und Zar (Michail Fedorovič) gleichzeitig Vater und Sohn waren. Georg Michels zeigt in seinem Beitrag das enorme Wachstum der Besitzungen des Patriarchats und die rigorose Besteuerung der Einwohner dieser Ländereien mit Hilfe eines stark wachsenden Beamtenapparats. Mit der rücksichtslosen Verfolgung der Unzufriedenen und Kritiker bereitete Filaret, so Michels, den Weg für die gewalttätige Auseinandersetzung mit den Altgläubigen in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts.

Das Moskauer Reich war ein multireligiöser Staat, und der Umgang mit dieser Vielfalt zweifellos eine Herausforderung für die rechtgläubigen Herrscher und die mächtige orthodoxe Kirche. Paul Bushkovitch, der die Beziehung zum Islam untersucht, betont den Unterschied zu Spanien und Portugal, die ihre Integration nur durch die Vertreibung der Muslime (und der Juden) erringen zu können glaubten. Russland ist nicht den Weg von Zwangsbekehrung, Vertreibung oder Vernichtung gegangen, und Bushkovitch ist der Meinung, dies sei nur erklärungsbedürftig, wenn man den westlichen Weg als Maßstab nehme. Die Orthodoxie hatte andere Ideale und Traditionen als die katholische Kirche. Sie suchte die Integration und Festigung der eigenen Glaubensgemeinschaft, was aber die Existenz von Andersgläubigen nicht ausschloss. Wie Aleksandr Filjuškin in seinem Beitrag zeigt, ließ sich Ivan IV. vom Prinzipjedem seine Religion(u každogo svoja vera) leiten. Ob die Moskoviter solche religiöse Toleranz tatsächlich von den Tataren übernommen haben, wie Bulat Rachimzјanov postuliert, wäre allerdings noch zu untersuchen. Sein Beitrag belegt in erster Linie die erfolgreiche Eingliederung von muslimischen Angehörigen der tatarischen Elite. Die tolerante Haltung des Staates hinderte einzelne Exponenten der Kirche nicht daran, sich missionarisch betätigen zu wollen, wie Aleksandr Lavrov dies für Daniil von Temnikov zeigt.

Immer wieder wird deutlich, welch erstaunliche Forschungslücken in Bezug auf die vorpetrinische Zeit klaffen, so etwa, wie André Berelowitch betont, für die Geschichte der Altgläubigen. So sei nicht geklärt, warum Aleksej Michajlovič so unnachgiebig die Reformen unterstützte, selbst nach der Absetzung Nikons. Aufgrund der Analyse theologischer Dispute kommt er zum überraschenden Schluss, dass die kirchliche Obrigkeit und insbesondere der Zar eine stetige Verengung der theologischen Perspektive der Orthodoxie bekämpfen und mit der Zeit gehen wollte.

Sehr anschaulich und konkret fassbar wird die integrierende Rolle von Religion im Beitrag von Isolde Thyrêt. Die Autorin legt dar, wie die sorgsam inszenierte Belebung des Heiligenkultes um Arsenij und Michail von Tverder Stadt und ihren Einwohnern ein einigendes spirituelles Zentrum und größere Bedeutung gegen außen verschaffte. In seinem Beitrag, der die Frage von Religion und Integration nur streift, aber überaus interessant ist, befasst sich Pavel Sedov mit der sich verändernden Wahrnehmung von Zeit gegen Ende des 17. Jahrhunderts. Dazu untersucht er, wie in der Korrespondenz verschiedener Klöster Zeitangaben gemacht werden. Er zeigt, dass der Übergang zur westlichen, astronomischen Zeitmessung eine längerer Prozess war, der in den 1670er Jahren begann und ein bis zwei Generationen beanspruchte. Ganz deutlich ist in der Korrespondenz auch wahrnehmbar, wie die Zeit schneller zu werden scheint, was die Menschen als Hast (sueta) empfanden und beklagten.

Zur integrativen religiösen Praxis kann man das Gedenken der Verstorbenen zählen, mit dem sich Ludwig Steindorff und Russell Martin beschäftigen. Wie Steindorff ausführt, entwickelte und gestaltete sich die Kommemoration im Moskauer Reichwenn auch Jahrhunderte späterganz ähnlich wie in Westeuropa. Das Totengedenken diente unter anderem der Festigung der Gemeinschaft auf synchroner (zwischen den Lebenden) und diachroner Ebene (zwischen Lebenden und Toten). Gleichzeitig förderten die damit verbundenen großzügigen Gaben die Klöster, die ihrerseits eine wichtige Rolle bei der Integration von Randgebieten spielten, wie etwa das Solovki-Kloster in Bezug auf den russischen Norden. Russell Martin hebt in seiner Untersuchung einen Spezialfall von Kommemoration hervor: Zar Aleksej Michajlovič gab jeweils an den Todesdaten seiner Eltern große Summe für deren Gedenken aus. Die Mittel gingen an zahlreiche Klöster, so dass, wie sich der Autor ausdrückt, an diesen Tagen jeweils eine große liturgische Gemeinschaft entstand, die für die Seele eines einzelnen Menschen betete und an denen der Zar selbst und die höchsten Hierarchen teilnahmen.

Einige der russischen Autoren, etwa Michail Krom, fordern in ihrer Auseinandersetzung v.a. mit der sowjetischen und russischen Forschungsliteratur dazu auf, Religiosität und die Bedeutung der Religion aus der damaligen Zeit heraus zu verstehen, die Quellen und deren Aussagen ernst zu nehmen und nicht ex post unbegründete Interpretationen vorzunehmen. Diesem Band, der insgesamt hochklassige Beiträge versammelt, die auf skrupulösem Quellenstudium basieren und in einigen Bereichen die Kenntnis der vorpetrinischen Zeit entscheidend bereichern, könnte man so etwas gewiss nicht vorwerfen.

Nada Boškovska, Zürich

Zitierweise: Nada Boškovska über: Ludwig Steindorff (Hrsg.): Religion und Integration im Moskauer Russland. Konzepte und Praktiken, Potentiale und Grenzen. 14.–17. Jahrhundert. Wiesbaden: Harrassowitz, 2010. 527 S., Abb., Tab. = Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 76. ISBN: 978-3-447-06116-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Boskovska_Steindorff_Religion_und_Integration.html (Datum des Seitenbesuchs)

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