Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Nada Boškovska

 

Balkan Departures. Travel Writing from Southeastern Europe. Ed. by Wendy Bracewell and Alex Drace-Francis. New York, Oxford: Berghahn Books, 2009. 175 S. ISBN: 978-1-84545-254-4.

Die Nutzung von Reiseberichten als Quellen zur Geschichte des Balkans hat eine lange Tradition. Entsprechend war der Einfluss dieser Quellengattung auf die Perzeption des Balkans von beträchtlicher Bedeutung. Wenig untersucht sind dagegen Berichte von balkanischen Reisenden. Der vorliegende Sammelband könnte daher zum Schließen dieser Lücke beitragen. Er beschäftigt sich, nebst einer Einleitung von Wendy Bracewell, in sechs Beiträgen mit Reiseberichten, die im Zeitraum vom 16. bis zum 20. Jahrhundert in griechischer, rumänischer, bulgarischer, serbischer und kroatischer Sprache geschrieben wurden. In dieser großen Zeitspanne liegt einer der Gründe, warum der Band die Erwartungen nicht zu erfüllen vermag. Zu wenig verbindet den griechischen, in Venedig lebenden Humanisten aus dem 16. Jahrhundert mit dem Kroaten der 1980er Jahre. Auch auf anderen Ebenen lässt sich kein gemeinsames Konzept erkennen, die Beiträge führen in ganz verschiedene Richtungen. Teilweise sind die Aufsätze, wie etwa jener von Vladimir Gvozden über einen literarischen Reisebericht von Jovan Dučić, sehr spezialisiert und können von Kennern gewiss mit Gewinn und Interesse gelesen werden, sind aber einem etwas allgemeiner interessierten Publikum wenig zugänglich. Auf literarische Fragen fokussiert ist auch der Beitrag von Dean Duda, der die modernistischen Elemente in den Reisebeschreibungen der kroatischen Schriftsteller Antun Gustav Matoš, Miroslav Krleža, Slavko Batušić und Marijan Matković untersucht.

Maria Kostaridou befasst sich in ihrem Beitrag mit dem dreibändigen Reisebericht „Apodemiai“ des Griechen Nikandros Noukios. Interessanterweise lässt der Autor die Reise nach Konstantinopel weitgehend aus und konzentriert sich, wie er sagt, auf jene Länder, die „jedermann“ weit weniger bekannt seien, nämlich das westliche Europa. Sein Bericht fügt sich gut in das Genre der humanistisch inspirierten Reiseberichte des 16. Jahrhunderts ein.

Alex Drace-Francis widmet sich dem Werk „Aufzeichnung meiner Reise“ (1826) des walachischen Bojaren Dinicu Golescu. Es ist vor allem bekannt für sein Lob der Verhältnisse im Ausland und die Klage über die Zustände in der Heimat. Dem Buch werden bedeutende modernisierende Impulse zugeschrieben, was nach Drace-Francis aber wenig wahrscheinlich ist, da das Werk damals wenig gelesen wurde.

Gut strukturiert, aufschlussreich und ergiebig ist der Beitrag von Ludmilla Kostova, der die Westeuropabilder in bulgarischen Reiseberichten der Jahre 1945–1985 untersucht und dabei auch kurz die Entwicklung des Schreibens von Reiseberichten in Bulgarien seit 1840 skizziert. Dabei weist die Autorin auf die wichtige Rolle hin, welche dem Genre für den Nationsbildungsprozess zukommt. Ein wiederkehrender Zug der bulgarischen Literatur und Reiseliteratur des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts ist die empfundene zivilisatorische Überlegenheit des Westens über das eigene Land und den Balkan allgemein. In der Reiseliteratur aus sozialistischer Zeit ist aber selbstverständlich nicht mehr von bulgarischen Defiziten die Rede, sondern Bulgarien erscheint als sozialistisches Musterland, während nunmehr der Westen weitgehend negativ geschildert wird. Erst in den 80er Jahren erschienen ausgewogenere Texte, die aber immer noch am Sozialismus zu Hause keine Kritik übten.

Im letzten Beitrag vergleicht Wendy Bracewell nach 1989 erschienene englische Berichte über den Balkan und Berichte von Jugoslawen aus den siebziger und achtziger Jahren auf das Männlichkeitsbild hin. Das Fazit der Autorin: Die veränderten Geschlechterrollen im Westen führen zu neuen Unterscheidungsformen. Das direkte Geltendmachen von Überlegenheit ist nicht mehr angebracht, und die Protagonisten üben sich in Selbstironie. Letztlich wird aber der Unterschied zwischen Ost und West gerade dadurch wieder zur Schau gestellt. Der Westen ist einmal mehr die überlegene, wenn auch veränderte Norm, während der Balkan die Abweichung darstellt.

Nada Boškovska, Zürich

Zitierweise: Nada Boškovska über: Balkan Departures. Travel Writing from Southeastern Europe. Ed. by Wendy Bracewell and Alex Drace-Francis. New York, Oxford: Berghahn Books, 2009. 175 S. ISBN: 978-1-84545-254-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Boskovska_Bracewell_Balkan_Departures.html (Datum des Seitenbesuchs)

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