Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Kirsten Bönker

 

Richard S. Wortman: The Development of a Russian Legal Consciousness. Chicago, IL: University of Chicago Press, 2010. XI, 345 S., Tab. ISBN: 978-0-226-90775-8.

„Legal modernization did not bring an element of stability to Russia.“ Diese klare Antwort gab Richard Wortman auf eine der zentralen Fragen der Geschichte des ausgehenden Zarenreiches in seiner wegweisenden Studie über die Akteure, die maßgeblich die Justizreform von 1864 gestalteten. Nun ist Wortmans Studie von 1976 im Jahre 2010 unverändert nachgedruckt worden. Dies mag für eine über 30 Jahre alte Untersuchung zunächst einmal sehr überraschen, zumal Verlag und Autor es nicht für nötig gehalten haben, dem Nachdruck ein Vorwort oder einen Kommentar beizufügen. Sie scheinen davon auszugehen, dass sich der Forschungsstand seitdem nicht entscheidend fortentwickelt hat. Tatsächlich ist Wortmans sehr konkretem Untersuchungsthema, der Entwicklung eines juristischen Ethos, einer neuen Konzeptualisierung des Rechts und der Genese einer neuen juristischen Berufsgruppe der sogenannten pravovedy, wenig hinzugefügt worden. Somit haben die Rezensenten, die seinerzeit nahezu einhellig der Meinung waren, dass das Buch ein Meilenstein der Forschung sei, die Studie zu Recht auch auf längere Sicht gewürdigt.

Heute trifft die Untersuchung aber auf eine neue, mit anderen Interessen, Fragestellungen und Zugriffen arbeitende Forschung, die die Vorzüge des Buches, aber nicht zuletzt auch seine Schwächen offenbart. Recht und Justiz sind, besonders für das ausgehende Zarenreich, anders als Mitte der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts mittlerweile ein prosperierendes Forschungsfeld. Es hat sich in den letzten 15 Jahren vor allem dadurch fortentwickelt, dass die Zunft ihren Blick von hauptstädtischen Elitendiskursen, institutionellen und gesetzgeberischen Reformen oder auch Professionalisierungsprozessen gelöst hat. Solche Perspektiven standen in den frühen Untersuchungen zum Rechtssystemzum Teil aus der Logik der sich aufeinander beziehenden Fragestellungen heraus, zum Teil angesichts der Quellenlage sogar notwendigerweiseim Vordergrund. (Vgl. vor allem die Arbeiten von Samuel Kucherov: Courts, Lawyers, and Trials under the Last Three Tsars. New York 1953; Friedhelm Berthold Kaiser: Die russische Justizreform von 1864. Zur Geschichte der russischen Justiz von Katharina II. Bis 1971. Leiden 1972; Jörg Baberowski: Autokratie und Justiz. Zum Verhältnis von Rechtsstaatlichkeit und Rückständigkeit im ausgehenden Zarenreich 1864–1914. Frankfurt a.M. 1996.)

Auf diesen Forschungen aufbauend, rückten dann verstärkt alltägliche Rechtspraktiken und Gerechtigkeitsvorstellungen jenseits der Hauptstädte in den Mittelpunkt, ohne dass solche Themen bislang schon erschöpfend ausgeleuchtet worden wären. Zumindest aber gerieten auf diese Weise verschiedene soziale Gruppen des Reiches, vor allem die Bauern, in den Blick. Die Forschung hat sich jedoch nicht nur hinsichtlich der untersuchten Akteure und des Fokus auf Praktiken neu orientiert. Sie hat sich auch räumlich geöffnet, indem nun nicht nur das Zarenreich jenseits der urbanen Zentren, sondern auch die Akteure der nicht-russischen Peripherie des Imperiums wahrgenommen werden. (Vgl. besonders Stefan B. Kirmse:Law and Societyin Imperial Russia, in: InterDisciplines 2 [2012], S. 103–134; Stefan B. Kirmse: Dealing with Crime in Late Tsarist Russia: Muslim Tatars and the Imperial Legal System, in: Stefan B. Kirmse (Hrsg.): One Law for All? Western Models and Local Practices in (Post-)Imperial Contexts. Frankfurt a.M. 2012, S. 209–242.)

Vor diesem Hintergrund zählt es dennoch nach wie vor zu den Vorzügen des Neudrucks, die grundlegenden Diskurse der hauptstädtischen Eliten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachzuzeichnen und die entsprechenden Akteure zu identifizieren, die die Justizreform anstießen, durch die der tiefgreifende Wandel gesellschaftlicher Beziehungen bis 1917 zusätzliche Impulse erhielt. Wortman bietet dem Leser dazu eine in drei große Abschnitte gegliederte Darstellung. Zunächst betrachtet er die Justizverwaltung und ihr Personal bis hinunter auf die Provinzebene in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dabei zeigt er detailliert, dass zum Ende der Amtszeit Nikolaus I. eine neue Elite in der Justizverwaltung aufgestiegen war, die ihre Position maßgeblich ihrer Ausbildung und ihren Kenntnissen verdankte. Ausgangspunkt war die Kaiserliche Rechtsschule, die 1835 auf Vorschlag des Prinzen Peter von Oldenburg gegründet worden war. Sie nahm junge Adelige zwischen 12 und 17 Jahren auf und bot ihnen eine sechsjährige Ausbildung mit humanistischem Grundwissen und Kenntnissen in praktischer Rechtskunde. Anschließend waren die Absolventen verpflichtet, sechs Jahre in der Justizverwaltung zu arbeiten. Obwohl die meisten von ihnen aus Familien der Ränge eins bis acht stammten, zeichnet Wortman einen bildungsorientierten Elitenwandel nach. Zu den wichtigen Neuerungen der Justizreform Alexanders II. von 1864 zählten schließlich die Einführung der Advokatur und die Reform der Prozessordnung. Sie umfasste fortan ein mündliches und öffentliches Verfahren..

Im zweiten und umfangreichsten Teil analysiert Wortman die Entstehung eineslegal ethos“, indem er den sozialen und politischen Hintergrund sowie die Ausbildung und Professionalisierung derjenigen Akteure der dreißiger bis siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts in den Blick nimmt, die maßgeblich die Reformbewegung trugen. Gestützt auf Schriften, Briefe und Nachlässe von oft prominenten Akteuren wie G. R. Deržavin, D. N. Bludov oder V. N. Panin zeichnet er nach, wie die bürokratische Elite ihre Ämter mit einem neuen Pflichtgefühl und moralischen Ansprüchen gegenüber gesetzlichen Normen versah. Wortmans These ist, dass die Einstellungen und Praktiken dieser Gruppe eine Strahlkraft entwickelten, die im Zuge der Reformen sukzessive auch andere gesellschaftliche Schichten erfasste. Der Gegensatz von proizvol (Willkür) und zakonnost (Gesetzlichkeit) bildete die Koordinaten der liberalen Diskussion.

Im dritten Teil entfaltet Wortman seine letztlich pessimistische Sichtweise auf die Reform, da die rechtsstaatlichen Vorstellungen der professionellen Eliten insgesamt betrachtet inkompatibel mit dem autokratischen Staats- und Herrschaftskonzept der zarischen Regierung gewesen seien. Insofern habe die Reform, wie eingangs zitiert, das Zarenreich nicht stabilisiert, sondern eher das Gegenteil bewirkt.

Doch wie weit tragen gerade diese großen, über das eigentliche Thema und seinen Untersuchungszeitraum hinausgreifenden Thesen und Interpretationen dieses fraglos betagten Werkes? Sicherlich ist Wortmans Bewertung, dass die Justizreform Spannungen zwischen Gesellschaft und Autokratie offengelegt habe, nicht ganz falsch. Das Zarenreich war bis zu seinem Ende 1917 kein Rechtsstaat. Zu unsicher und über die Grenzen von Gouvernements, ja manchmal sogar von Kreisen hinweg unterschiedlich waren im Zweifelsfall die öffentlichen Handlungsräume gesellschaftlicher Akteure; zu punktuell, unsystematisch und nicht selten willkürlich intervenierte die zarische Verwaltung, wozu ihr vor allem die sogenannten Ausnahmegesetze eine rechtliche Grundlage boten. Die liberale Elite beklagte deshalb bis zur Februarrevolution den rückständigen, repressiven und korrupten Staat zwar sehr einseitig, aber nicht ganz zu Unrecht. Dennoch trug gerade die Justizreform, wie neuere Forschungen gezeigt haben, erheblich zu einer Modernisierung und Verrechtlichung gesellschaftlicher und auch ökonomischer Beziehungen bei. Sie zeigen, dass gerade auch Bauern bereit waren, sich die neuen Rechtsnormen anzueignen und darüber hinaus an den neuen Verwaltungsinstanzen zu partizipieren. (Vgl. z.B. Jane Burbank: Russians Peasants Go to Court. Legal Culture in the Countryside, 1905–1917. Bloomington, IN 2004; Franziska Schedewie: Selbstverwaltung und sozialer Wandel in der russischen Provinz. Bauern und Zemstvo in Voronež, 1864–1914. Heidelberg 2006; Corinne Gaudin: Ruling Peasants. Village and State in Late Imperial Russia. DeKalb, IL 2007.)

Vor diesem Hintergrund erscheint Wortmans Ansatz, die Entstehung eines Rechtsbewusstseins anhand einer kleinen Elite, ihrer Ausbildung und des Aufbaus institutioneller Strukturen zu untersuchen, als viel zu eindimensional. Damit bleibt auch die Aussagekraft der Thesen, die auf langfristige Entwicklungen des Zarenreiches zielen, fragwürdig, zumal seine Untersuchung mit dem Erlass der Reform endet. Nur im Epilog zieht er die öffentlichen Prozesse gegen die Terroristen als Beispiel dafür heran, dass die rechtsstaatliche Justiz letztlich angesichts dieser Bedrohung des Staates kapitulierte und die Regierung fortan auf polizeiliche Repression zurückgriff. Mehr noch,the result was a state at war with its own court system, a fatal rift between the traditional and the legal bases of the autocrats authority(S. 284). An solchen Stellen dominiert ein in Zeiten des Kalten Krieges typischer Blick auf das Zarenreich, als viele seine Geschichte nur von ihrem Ende her denken konnten und wollten. Dies wird aus der heutigen Rückschau und mit dem Wissen um die neuere Forschung nach Öffnung der Archive, die in ganz verschiedenen Themenfelder neue Facetten der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen des Zarenreiches ans Licht gebracht und nachgezeichnet hat, sehr deutlich. Gerade kulturgeschichtlich orientierte Studien beziehen Fragen nach politischer und rechtlicher Kultur systematischer ein als Wortman ein. Wie erwähnt, fragen sie nicht nur nach Praktiken, sondern auch nach Vorstellungen über Gerechtigkeit, Schuld und Verantwortung. (Vgl. z.B. Louise McReynolds: Witnessing for the Defense: The Adversarial Court and Narratives of Criminal Behavior in Nineteenth-Century Russia, in: Slavic Review 69 (2010), S. 620–644; Girish N. Bhat: The Moralization of Guilt in Late Imperial Russian Trial by Jury: The Early Reform Era, in: Law and History Review 15 (1997), S. 77–113.) Dadurch wird deutlich, dass der Rechtsstaat keine feste Größe war, die existierte oder nicht, sondern dass es sinnvoller ist, kleinschrittiger nach rechtsstaatlichen Entwicklungen zu suchen. Solche waren im langen 19. Jahrhundert auch im Zarenreich in vielen gesellschaftlichen Bereichen nicht zuletzt deshalb zu erkennen, weil unterschiedliche soziale Gruppen die Veränderungen im Gerichtswesen nutzten und mit ihren bisherigen Rechtsvorstellungen und -praktiken in Beziehung setzten. Gleichzeitig forderten progressive Akteure der Gesellschaft, unterstützt durch liberale Presseorgane, die Umsetzung der Justizreform im Alltag vehement ein.

Wortmans Studie regt somit immer noch Forschungsfragen an, so dass ihre Lektüre trotz der methodischen Schwächen durchaus noch lohnenswert ist. Zu denken ist hier ebenso an die rechtsstaatlichen Entwicklungen im Strafrecht, in der politisch-administrativen Rechtsprechung, im Verwaltungsrecht, mit Blick auf Eigentumsverhältnisse und Erbrecht oder auf Geschlechterbeziehungen wie auch an gesellschaftliche Vorstellungen über Recht und Gerechtigkeit und ihre Folgen für Rechtspraktiken. Das grundlegende Wechselverhältnis, in dem Recht und Justiz mit gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen, mit der Entwicklung des politischen Systems und der politischen Kultur stehen, bietet nach wie vor spannende Forschungsfelder, die unmittelbar die Auswirkungen der Justizreform einbeziehen und bislang eher stiefmütterlich behandelt worden sind. Insofern hätte dem Neudruck zumindest ein Vorwort vorangestellt werden müssen, das solche Überlegungen aufgenommen hätte. Eine Verortung in der neueren Literatur wäre letztlich notwendig gewesen, um die neuerliche Publikation zu rechtfertigen.

Kirsten Bönker, Bielefeld

Zitierweise: Kirsten Bönker über: Richard S. Wortman: The Development of a Russian Legal Consciousness. Chicago, IL: University of Chicago Press, 2010. XI, 345 S., Tab. ISBN: 978-0-226-90775-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Boenker_Wortman_Development_of_a_Russian_Legal_Consciousness.html (Datum des Seitenbesuchs)

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