Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Kirsten Bönker

 

Pleasures in Socialism. Leisure and Luxury in the Eastern Bloc. Edited and with an introduction by David Crowley and Susan E. Reid. Evanston, IL: Northwestern University Press, 2010. VII, 348 S., Abb. ISBN: 978-0-8101-2690-9.

Eine interdisziplinäre Konsumgeschichte, die verschiedene Perspektiven auf soziale, politische, kulturelle und ökonomische Entwicklungen in unterschiedlichen historischen Kontexten vereint, hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten vor allem mit Blick auf die Gesellschaften der westlichen Hemisphäre etabliert. Dies gelingt mit objekt- wie akteurszentrierten Ansätzen und mit Kategorien wie „Konsument“, „Konsum­gesell­schaft“, „Konsumkultur“ oder zuletzt mit dem Zugriff über politische Kommunikation. Diese Ansätze erweisen sich neuerdings auch für die staatssozialistischen Gesellschaften als sehr fruchtbar, da sie in der neueren Forschung nicht mehr nur unter dem Aspekt des Mangels betrachtet werden. Im Gegenteil hebt die Forschung nun die offensiv vertretene, das System legitimierende Bedeutung hervor, die die Ostblockstaaten dem Konsum spätestens mit der Entstalinisierung und im Zuge der Systemkonkurrenz des Kalten Krieges zugewiesen haben. Sie werden nun ebenfalls als Gesellschaften betrachtet, in denen Konsum über die Grundbedürfnisse der Menschen hinaus ging, soziale Distinktion schuf und Inszenierungen unterlag. Eine Voraussetzung dafür ist ein weiter Konsumbegriff, der den Verbrauch an Lebensmitteln und Waren aller Art ebenso einbezieht wie die Freizeitgestaltung, die Nutzung kommunaler Dienste oder die Inanspruchnahme öffentlicher Transferleistungen. Damit werden Quantität und Qualität der Konsumangebote zu relativen, historisier- und dekonstruierbaren Größen, die nicht auf westliche „Konsumgesellschaften“ festgelegt sind. Auf diese Weise rücken kulturelle Aneignungen, Konsumpraktiken oder kommunikative Aushandlungsprozesse in den Blick.

In diesen Forschungskontext ordnet sich der vorliegende Sammelband über Vergnügungen im Sozialismus ein. Die Herausgeber Susan E. Reid und David Crowley haben die Konsumgeschichte der staatssozialistischen Gesellschaften seit den 1990er Jahren vorangetrieben. Ihnen ist es gelungen, mit einem schlüssigen Konzept und einer klaren Leitfrage nach Luxus- bzw. Vergnügungsdiskursen und entsprechenden Praktiken inspirierende Beiträge zu versammeln, die alle sieben Ostblockstaaten von den 1940er Jahren bis zum Zusammenbruch des Sozialismus in den Blick rücken. Diese breite Sicht erweist sich trotz der zwangsläufigen Heterogenität der Gegenstände als Stärke des Bandes: Die Beiträge zeigen in der Zusammenschau Gemeinsamkeiten, aber auch nationale Unterschiede in der staatssozialistischen Konsum- und Freizeitkultur auf. Gleichwohl liegt mit vier bzw. drei Aufsätzen ein Schwerpunkt auf der Sowjetunion und der DDR. Trotzdem zeichnet der Band ein facettenreiches Bild davon, wie die Bürger der staatssozialistischen Gesellschaften Vergnügungen praktiziert und wahrgenommen, wie sie ihre Freizeit verbracht haben und in welchen Kontexten welche Konsumpraktik Luxus für sie bedeutete. Luxus definieren die Herausgeber als eine relative Kategorie, die nicht nur in der Unterscheidung zwischen befriedigten Grundbedürfnissen und Wünschen aufgeht, sondern sich auf die Akteure und ihre Wahrnehmung bezieht (S. 7 f). Freizeit und Luxus sind, wie der Untertitel ankündigt, die Prismen, um „Vergnügungen“ in verschiedenen Diskursen, Räumen oder Gegenständen zu fassen. Die neben der umfangreichen Einleitung hier präsentierten zwölf Beiträge behandeln mit diesem heuristischen Werkzeug verschiedene materielle wie immaterielle Güter. Sie werfen einige neue Perspektiven auf staatssozialistische Genusspraktiken.

Der Leser erfährt von Modepraktiken in der UdSSR (Larissa Zakharova, Anna Tikhomirova), von verschiedenen Praktiken des Luxuskonsums in der DDR und der Sowjetunion (Ina Merkel, Jukka Gronow und Sergei Zhuravlev), vom politischen Potential städtischer Jugendproteste, von Musik-, Tanz- und Modepraktiken im stalinistischen Polen (Katherine Lebow), von Frauenbildern in der Populärkultur der ČSSR (Paulina Bren), von körperlichen Genüssen in Form von Tabak und Rauchkultur in Bulgarien (Mary Neuburger), vom Alkohol in Rumänien (Narcis Tulbure) sowie von pornographischen Bildern und Literatur in der DDR (Josie McLellan). Kristin Roth-Ey legt für das noch junge Forschungsfeld der Mediengeschichte der Sowjetunion überaus relevante Ergebnisse zur Professionalisierung der Fernsehexperten und der Unterhaltungssendungen vor. Scott Moranda fragt, inwieweit es Campern in der DDR möglich war, sich dem Regime in eine private Welt zu entziehen. Moranda beschreibt Camping als eine politische Praktik. Campingplätze seien aber nicht Räume des Rückzugs und des Dissens gewesen, sondern hybride privat-öffentliche Räume (201 f). György Péteri betrachtet mit der Jagd in Ungarn ein Beispiel für Konsumpraktiken, über die sich die jeweiligen Akteure sozial distinguierten. Die Jagd stand hier in der k.u.k.-Tradition als Elitensport und sollte in der sozialistischen Ära zu einer demokratisierten Prak­tik werden. Trotz des ideologischen Anspruchs aber blieb sie, wie Péteri zeigt, ein Vergnügen vornehmlich der privilegierten Parteikader.

An dieser Stelle lässt sich den einzelnen Beiträgen in ihrer Vielfalt nicht gerecht werden, da die Autoren auf der Folie der Luxus- und Vergnügungspraktiken durchaus unterschiedliche Aspekte in den Fokus rücken. Viele Beiträge thematisieren Geschlechtsspezifika der Vergnügungen, die sowohl auf Machtverhältnisse zwischen dem Regime und der Bevölkerung als auch zwischen Männern und Frauen verweisen. Paulina Bren zeichnet den Diskurs um die Rolle der Frauen als – aus ideologischer Sicht – loyale Mitglieder des sozialistischen Kollektivs zwischen Arbeit, Familie und Konsum am Beispiel eines tschechoslowakischen Films bzw. einer Fernsehserie nach. Narcis Tulbure untersucht am Beispiel der Trinkpraktiken im ländlichen Rumänien, wie sich die Männer durch den gemeinsamen Alkoholkonsum den staatlichen Freizeitangeboten ebenso wie ihren Familien entzogen.

An den Beispielen der Jagd in Ungarn, des Umgangs mit Sex- und Körperdarstellungen in der DDR, des Genusses von Champagner, des Kaufs eines Pkw oder der Entwicklung des Modedesigns und der Haute couture in der Sowjetunion lassen sich Ambivalenzen zwischen ideologischen Ansprüchen und Praktiken der Bürgerinnen und Bürger ablesen, die zum Teil als Ergebnisse von Aushandlungen zwischen Regime und Bevölkerung betrachtet werden können.

Dieser gelungene Sammelband bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte und bereichert nicht nur das Forschungsfeld der staatssozialistischen Freizeit- und Konsumkultur, sondern eröffnet neue Perspektiven auf die Gesellschaften des Ostblocks. Die Beiträge beziehen sich bei den meisten Konsumpraktiken neben den bereits genannten auch auf Grenzziehungen zwischen privat und öffentlich, auf den Umgang mit Medien oder auf die Frage, wie sich die Erwartungen der Bürger in den einzelnen Ostblockstaaten mit Blick auf ihre Konsummöglichkeiten verschoben. Zugleich versuchten die Regime, ideologische Botschaften über mediale Unterhaltung und andere Freizeitvergnügungen zu transportieren. Reid und Crowley fragen einleitend aber zu Recht, inwieweit die Bürgerinnen und Bürger Vergnügungen auch als „sozialistisch“ wahrnahmen. Diese Zuschreibung bleibt jedoch in den meisten Beiträgen offen, was nicht weiter verwundert, da sie sich vermutlich nur schwer aus heutiger Sicht rekonstruieren lässt. Abgesehen von Interviews steht die Forschung hier zweifelsohne vor einem erheblichen Quellenproblem.

Mit der Frage der Bewertung als „sozialistische“ Vergnügungen verbindet sich zudem die zentrale Frage nach dem Charakter der Herrschaftsbeziehungen zwischen Regime und Bevölkerung, die einige Autoren ansprechen: Inwieweit gelang es den Regimen, Freizeit- und Konsumpraktiken zu politisieren oder mit steigenden Erwartungen möglicherweise wieder zu entpolitisieren? Inwieweit lassen sich bestimmte Praktiken wie auffällige Kleidung oder jugendlicher Hooliganismus als Ausdruck von Eigensinn oder als politischer Protest fassen? Katherine Lebow beispielsweise gibt keine entschiedene Antwort auf diese Frage, verweist aber auf das politische Potenzial solcher Praktiken (S. 87 f). Die Forschung hat bisher nur wenig beachtet, dass die kommunistische Überflussgesellschaft den Menschen ein Leben voller Freude und Genuss versprach. Die Regime setzten sich damit unter Zugzwang und politisierten die Konsumpraktiken. Zu ihrer Erforschung bräuchte es zudem einen konkreteren Zugriff auf das Politische bzw. auf das, was als politische Praktik unter den Bedingungen autoritärer Regime zu verstehen ist, als es Reid und Crowley hier im Blick haben. Die Konsumversprechen weckten ebenso wie die Blicke über den Eisernen Vorhang nach Westen bei den Bürgerinnen und Bürgern Gefühle und Fantasien, die wohl zur Stabilisierung bzw. Destabilisierung der Ostblockstaaten beigetragen haben. Einige Beiträge – z.B. die über die visuellen Medien und Mode – berühren derartige Mechanismen, doch bleibt eine Emotionsgeschichte der Gesellschaften des Ostblocks in dem Band insgesamt nur angedeutet. Sie gehört allerdings zu den großen Desideraten, da sie dazu beitragen würde, die Wahrnehmungen des oft beschwerlichen Konsumalltags, der den utopischen Versprechen entgegenstand, und ihren Beitrag zu der erstaunlichen Stabilität der Regime zu analysieren: Der Weg in den Überfluss verlangte von den Menschen nämlich zunächst Askese und Verzicht. Daher stand die Frage, was als luxuriöser Konsum zu verstehen sei, im Zentrum des sozialistischen Konsumdiskurses, wie Ina Merkel in einem hier in Übersetzung vorgelegten Beitrag von 2003 herausgearbeitet hat. Konsumpraktiken, die als luxuriös galten und Genuss erzeugten, blieben trotz des Versprechens einer lichten Zukunft ideologisch höchst umstritten. Die Frage, welche Konsumpraktiken und Güter aber jeweils einen Platz in der kommunistischen Utopie erlangten, welche ins ideologische Kreuzfeuer gerieten und welche jeweils zu Objekten der kommunikativen Aushandlungsprozesse zwischen den Bürgern und den Regimen wurden, unterlag nationalen Eigenheiten und geht keinesfalls in einer homogenen Vorstellung von dem „Ostblock“ auf. Hier zeigt sich das Potential, das eine wünschenswerte Vergleichs- und Verflechtungsgeschichte für die Ostblockstaaten und für transnationale Perspektiven auf Ost und West im Kalten Krieg bietet.

Kirsten Bönker, Bielefeld

Zitierweise: Kirsten Bönker über: Pleasures in Socialism. Leisure and Luxury in the Eastern Bloc. Edited and with an introduction by David Crowley and Susan E. Reid. Evanston, IL: Northwestern University Press, 2010. VII, 348 S., Abb. ISBN: 978-0-8101-2690-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Boenker_Pleasures_in_Socialism.html (Datum des Seitenbesuchs)

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