Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Kerstin Bischl

 

Sönke Neitzel / Harald Welzer: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben. Frankfurt a.M.: Fischer, 2011. 521 S., ISBN: 978-3-10-089434-2.

Es war ein Zufallsfund von Sönke Neitzel, der dieses Buch möglich machte: Bislang wusste niemand von den knapp 100.000 Seiten umfassenden Abhörprotokollen, die in britischen und US-amerikanischen Gefangenenlagern für Wehrmachtssoldaten entstanden waren und auf ihre Auswertung warteten. In diesen Quellen, so Sönke Neitzel und sein Ko-Autor, der Sozialpsychologe Harald Welzer, sprechen die Männer der Wehrmacht „in Echtzeit über den Krieg“, und nur darüber lasse sich ihre Mentalität und ihr Handeln ergründen (S. 9 f). Dies soll über die Referenzrahmenanalyse geschehen, also über die Frage danach, wie Menschen Situationen wahrnehmen und interpretieren, und welche „Rahmenanforderungen“ dabei situativ an sie gestellt werden (S. 23).

Um den Soldaten und ihren Geschichten viel Raum zu bieten, ist die Studie vor allem beschreibend: Den Anfang bilden Ausführungen zum Referenzrahmen des „Dritten Reiches“ und des Krieges. Im Hauptteil folgen dann sehr ausführlich die Sichtweisen der Soldaten auf Themenkomplexe wie Gewalt und die damit zusammenhängenden Emotionen, auf Sex, Technik und verschiedene ideologische Komplexe. Durch die abgehörten Gespräche der Soldaten kommen verschiedene kriegstypische Phänomene zur Sprache, die die Autoren auch für die Soldaten der Wehrmacht ausmachen: Hierzu gehört die selbstevidente Identifikation des Gegners; die Wahrnehmung des Krieges und der Gewalt als zu erledigende Arbeit, die kaum mit dem eigenen Handeln in Verbindung gebracht wurde und allein in Kategorien des Erfolgs gemessen wurde; und nicht zuletzt die Bedeutung der Gruppe, der Technik, des Raumes und der Zeit sowie der militärischen Werte als Orientierungsparameter.

Eine Antwort auf die eigens in der Überschrift des Abschlusskapitels aufgeworfene Frage, wie nationalsozialistisch der Krieg der Wehrmacht gewesen sei, wird allerdings nicht direkt gegeben. Die Besonderheit des deutschen Vernichtungskrieges, die laut Neitzel und Welzer in der Dimension und Qualität der ausgeübten (und an sich kriegstypischen) Gewalt lag (S. 395), lässt sich in der Wahrnehmung der Wehrmachtssoldaten nur bedingt nachweisen. Vieles, was in den Aussagen der Soldaten zur Sprache kommt, war ebenso für Soldaten in anderen (westlichen) Kriegen ausschlaggebend – wenn auch in jeweils unterschiedlicher Weise.

Den ersten Reiz der Studie machen die phänomenalen Quellenfunde aus, denn über sie lässt sich die Kommunikation der Wehrmachtssoldaten untereinander tatsächlich zum ersten Mal überzeugend darstellen. Auch die Methode der Referenzrahmenanalyse, die von Welzer schon in anderen Monographien angewendet wurde, erweist sich als ein brauchbares Inventarium. Während in dem methodologischen Kapitel aber quasi mit dem Seziermesser vier Ordnungen von Referenzrahmen unterschieden werden, hätte man sich diese Trennschärfe auch an anderen Stellen gewünscht – so wenn es um die unterschiedlichen Räume des Zweiten Weltkrieges geht. Folglich bleibt die Frage offen, ob es für die Soldaten von Bedeutung war, ob sie in Frankreich oder in der Sowjetunion ihren Einsatz verrichtet hatten, und wo die Gründe für die unterschiedlichen Gewaltauswüchse liegen. Auch ist verwunderlich, dass der Bedeutung von militärischen Werten 55 Seiten gewidmet werden – das Thema Geschlechtlichkeit aber weitestgehend ausgespart wird. Zwar behandeln elf Seiten die soldatischen Geschichten über Sex; der Verweis darauf, dass Sexualität zu den „wichtigsten Aspekten des menschlichen Lebens, des männlichen zumal“ zählt (S. 217f), ist aber unzulänglich und markiert einen blinden Fleck: Auch Bedürfnisse und Vorstellungen von Geschlechtlichkeit und entsprechendem Handeln werden in bestimmten Kontexten reproduziert – insbesondere in einer reinen Männergemeinschaft wie dem Militär. Kritisch anzumerken ist weiterhin, dass die Autoren es versäumen, die in den Abhörprotokollen transkribierten Geschichten einzuordnen. Sie begründen nicht, warum ein Reden in abgeschotteten, weit vom Kriegsschauplatz entfernten Gefangenenlagern ein Reden über den Krieg „in Echtzeit“ sein soll. Falls dem so ist und die Soldaten auch im Schützengraben auf die gleiche Art und Weise kommunizierten, dann stellt sich die Frage nach der Bedeutung des Redens für das Handeln der Soldaten und ihre Gewalt. Neitzel und Welzer verweisen zwar darauf, dass die erzählten Geschichten sich nicht so ereignet haben müssen – warum sie aber dennoch erzählt werden und welche Bedeutungen und Effekte sie hatten, das sind Fragen, die die Autoren nicht genügend beantworten.

Alle kritischen Kommentare sollen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit der Arbeit und den Quellen von Sönke Neitzel und Harald Welzer ein sehr, sehr wichtiges Buch zur Wehrmacht erschienen ist. Die nächste Runde zu deren Erforschung ist eingeläutet.

Kerstin Bischl, Berlin

Zitierweise: Kerstin Bischl über: Sönke Neitzel / Harald Welzer: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben. Frankfurt a.M.: Fischer, 2011. 521 S., ISBN: 978-3-10-089434-2., http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Bischl_Neitzel_Welzer_Soldaten.html (Datum des Seitenbesuchs)

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