Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Kerstin Bischl

 

Peter Böthig / Peter Walther (Hg.): Die Russen sind da. Kriegsalltag und Neubeginn in Tagebüchern aus Brandenburg. Berlin: Lukas, 2011. 511 S., ISBN 978-3-86732-079-5.

Die beiden Germanisten Peter Böthig und Peter Walther haben sich hohe Ziele gesteckt. Denn mit der Veröffentlichung umfangreicher Tagebuchfragmente wollen sie ein „annähernd objektives Bild von der kollektiven Bewusstseinslage in den verschiedenen Gesellschaftsschichten“ Brandenburgs in den Jahren 19441949 zeichnen (S. 11). Die Autoren und Autorinnen der versammelten Fragmente kommen dementsprechend aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten: ein (Napola-)Schüler, diverse Berufstätige, ein Rentner, der erklärter Hitlergegner ist, ein KZ-Insasse und viele mehr. Alle zusammen fokussieren in ihren Aufzeichnungen weniger genuin politische Ereignisse, sondern bringen persönliche Gefühle, Befindlichkeiten, Beobachtungen oder Gerüchte zur Sprache. Das Wetter kann genauso zum Thema werden wie die Sorge um verschollene oder erkrankte Familienmitglieder. Dazu kommt die Aufregung über Schulnoten oder über das Verhalten der (sowjetischen) Besatzungsmächte, von denen allzu oft eine willkürliche Gewalt ausging und die man nicht als legitime Autorität in Deutschland betrachtete. Insgesamt sind es gerade diese alltäglichen, oftmals zu Unrecht als unwissenschaftlich gebrandmarkten Äußerungen, die den Reiz des vorliegenden Bandes ausmachen.

Interessant ist am vorliegenden Band aber nicht nur der Fokus auf Alltägliches. Viel überraschender ist die Tatsache, dass die versammelten Tagebuchfragmente ein sehr harmonisches Bild der brandenburgischen Bevölkerung zwischen 1944 und 1949 zeichnen. Konflikte, Misstrauen und Entsolidarisierung zwischen deutschen Flüchtlingen, Alteingesessenen und der sich zurückziehen Wehrmacht scheint es genauso wenig gegeben zu haben wie das Evakuierungsverbot der deutschen Behörden oder ressentimentgeladenes Handeln gegenüber ehemaligen KZ-Häftlingen oder displaced persons. Der vorliegende Band steht dadurch im Kontrast zu anderen Quellensammlungen, die zum Beispiel im Walter-Kempowski-Biographienarchiv der Akademie der Künste in Berlin zu finden sind und ein durchaus konfliktreicheres Bild ergeben.

Woher dieser Kontrast rührt, ist an dieser Stelle nicht zu entscheiden; es drängt sich aber der Verdacht auf, dass er der Herausgebertätigkeit von Böthig und Walther anzulasten ist. Denn auch an anderer Stelle werden die beiden den selbst gesetzten Ansprüchen wie auch geschichtswissenschaftlichen Standards nicht gerecht. So sprechen sie umstandslos von der Authentizität der Quelle Tagebuch (S. 15), die es aber per se nicht gibt; sie verweisen nirgends auf die eigenen Auswahlkriterien und sie versäumen es, nach den Leerstellen in der dokumentierten Geschichte zu fragen. So mag die Bandbreite der von Böthig und Walther versammelten Tagebuchschreiberinnen und -schreiber ob ihrer sozioökonomischen Herkunft tatsächlich groß sein – es bleiben aber allein nicht-jüdische Deutsche, die zu Wort kommen. Einzige Ausnahme ist ein Sohn polnischer Zuwanderer. Es wäre wünschenswert gewesen, auch Tagebücher von sowjetischen Soldaten aufzunehmen oder wenigstens in der Einleitung zu problematisieren, dass viele Menschen, die sich 1944 bis 1949 (zumindest zeitweise) auf brandenburgischem Boden aufhielten, keine Möglichkeit hatten, Tagebuch zu führen. So zum Beispiel die osteuropäischen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen oder andere Personen, die seit der Befreiung durch die Rote Armee als displaced galten.

Gerade wegen der vielen deutschen Stimmen ist es zudem ärgerlich, dass die Herausgeber darauf verzichten, in den angehängten Biographien der Tagebuchschreiber und ‑schreiberinnen Hinweise auf deren eventuelle (parteipolitische) Nähe zum Nationalsozialismus zu geben. Denn ohne diese erwecken die zusammengestellten Quellenfragmente den Eindruck, dass die zitierten Brandenburger und Brandenburgerinnen allein menschlich Betroffene derjenigen „Welle an Gewalt“ waren, „die von Deutschland ausging“ und mit „großer Wucht“ auf das Land zurückkam, wie die Herausgeber in der Einleitung schreiben (S. 9). Ihre Beteiligung an der politischen Ordnung vor 1945 bleibt im Dunkeln, hätte aber das Lesen (und Deuten) ihrer Aufzeichnungen umso spannender gemacht. Schuld an dieser Leerstelle ist wohl die etwas krude Vorstellung, die Böthig und Walther vom Nationalsozialismus haben, da sie zwischen der „Nazi-Ideologie“ und dem „Normalbürger“ unterscheiden, für den „lange scheinbar alles beim Alten“ geblieben sei (S. 10).

Alles in allem ist der Leseeindruck des Bandes daher eher unbefriedigend, erst recht, wenn man um die hochgesteckten Ziele der Herausgeber und die Bedeutsamkeit des deutschen Erinnerungsdiskurses weiß.

Kerstin Bischl, Berlin

Zitierweise: Kerstin Bischl über: Peter Böthig / Peter Walther (Hg.): Die Russen sind da. Kriegsalltag und Neubeginn in Tagebüchern aus Brandenburg. Berlin: Lukas, 2011. 511 S., ISBN 978-3-86732-079-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Bischl_Boethig_Russen_sind_da.html (Datum des Seitenbesuchs)

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