Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 5 (2015), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Eva Binder
Natascha Drubek: Russisches Licht. Von der Ikone zum frühen sowjetischen Kino. Wien [etc.]: Böhlau, 2012. 527 S., zahlr. Abb. = Osteuropa medial, 4. ISBN: 978-3-412-20456-3.
Natascha Drubek setzt sich in ihrer Monographie mit unterschiedlichen Licht-Konzepten und Licht-Praktiken in der russischen Kultur auseinander, wie sie in der künstlerisch äußerst produktiven Zeit von etwa 1890 bis 1930 verfolgt wurden. Dabei setzt die Autorin zwei sehr unterschiedliche „Ordnungen des Lichts“ zueinander in Beziehung: die theologischen Modelle der göttlichen Schau bzw. des göttlichen Lichts und die damit verbundene Ikonenmalerei einerseits und das Kino als technisch begründetes „Lichtspiel“ und säkularisiertes „Lichtschaffen“ andererseits. Mit dem der Ikonentradition eigenen, nicht-mimetischen Bildverständnis auf der einen und dem ästhetisch innovativen avantgardistischen sowjetischen Kino der zwanziger Jahre auf der anderen Seite erfasst Drubek gleichzeitig auch „zwei der wichtigsten Paradigmata russischer Originalität“ (S. 25). Diese Originalität nimmt Drubek zum Angelpunkt, um nach einer russischen Spezifik – nach „genuin russischen Bildkonzepten“ (S. 38) – zu fragen und eine v.a. auf christlich-orthodoxen Licht- und Emanationsvorstellungen basierende Lichtphilosophie vom Symbolismus bis zur Kultur der frühen Sowjetzeit herauszuarbeiten.
Obwohl Drubek in ihrer Studie verschiedene künstlerische Ausdrucksformen exemplarisch mit einbezieht, wie insbesondere die bildende Kunst (je ein Unterkapitel ist dem Rayonismus von Natal’ja Gončarova und Michail Larionov und dem weniger bekannten Avantgardekünstler Kliment Red’ko gewidmet), gilt das primäre Interesse der Autorin dem Kino in einem umfassenden Sinn. So wendet sich Drubek dem russischen Filmschaffen der zehner bis dreißiger Jahre als „neue[r] Ordnung des Schauens“ zu und legt in ihren film- und medientheoretischen Ausführungen wie auch in ihrer analytischen Auseinandersetzung mit einzelnen Filmen und Regisseuren (insbesondere Sergej Eisenstein und Dziga Vertov) den Akzent auf jene Elemente des Kinos, die sich nicht über ein semiotisches Zeichenverständnis fassen lassen. Es sind die medienspezifischen, häufig a-semantischen Momente des Films – die „flüchtige[n] Bilder, die sich der Sprache entziehen“ (S. 49) –, denen das besondere Interesse der Autorin gilt. Dazu gehören u.a. die in den 1920er Jahren viel diskutierte Fotogenie, die sich auf Form, Faktur und Beleuchtung der gefilmten Gegenstände bezieht, oder gewisse Zufälligkeiten im Filmbild, die allen voran Dziga Vertov mit seiner Forderung nach ungestellten, dokumentarischen Aufnahmen herausforderte.
Zu den medienspezifischen Momenten des Kinos gehört insbesondere auch die Spezifik des Lichts, wie sie im „Lichtschaffen“ (russ. svetotvorčestvo) des Regisseurs Evgenij Bauėr, dem bis in die achtziger Jahre unterschätzten Mitbegründer eines „russischen Stils“ im Kino der zehner Jahre, zum Tragen kommt. Im ausführlichsten und zweifelsohne aufschlussreichsten letzten Kapitel ihrer Studie arbeitet Drubek zunächst den Kontext von Bauėrs filmischem Schaffen heraus, indem sie insbesondere auf die am Neoplatonismus geschulte Lichtmystik der Symbolisten wie auf die Wahrnehmung des frühen Kinos durch russische Schriftsteller und Dichter, etwa Maksim Gor’kij und Andrej Belyj, eingeht. In einem zweiten Schritt zeigt Drubek anhand der beiden Filme Dämmerung der weiblichen Seele (1913) und Nach dem Tode (1915) eindrucksvoll, wie Bauėrs filmische Ästhetik aus der Lichtpoetik des Symbolismus schöpft und wie die symbolistische Mythopoetik in Bauėrs „Licht-Malerei“ eine filmische Umsetzung findet.
Neben dem Kino als Medium des Schauens, das die sinnliche Wahrnehmung anspricht, setzt sich Drubek in ihrer Studie auch mit dem Film als Form einer nicht-sprachlichen theoria auseinander – ein Begriff, der im Griechischen „soviel wie ,Betrachten‘ bedeutet“ (S. 156). Im Unterschied zum westlichen christlichen Denken verfolgt die russische Orthodoxie kaum eine „Theologie der verbalen Argumentation“ (S. 178), sondern entwickelt, wie Drubek anhand der Schriften von Pavel Florenskij nachweist, mit der Ikone eine nicht-sprachliche Theologie. Die russische Tradition eines visuell argumentierenden Denkens wirkt nach Drubek im sowjetischen Film noch nach und zeigt sich insbesondere im Interesse der Filmpraktiker am Potenzial des Kinos als Theoriemedium, für das die Montagetheorie und -praxis von Sergej Eisenstein paradigmatisch steht.
Drubek strebt in ihrer Monographie keine „Kulturgeschichte von Licht-Konzepten und -Praktiken“ an, sondern versucht vielmehr, „den Lichtbegriff in seiner Relevanz für das Kino so weit wie möglich zu fassen“ (S. 21). Dieser Zugang erklärt auch die Breite der abgehandelten Themen, mit der die Autorin ihr solides kultur-, film- und medienwissenschaftliches Instrumentarium wie auch ihr fundiertes filmhistorisches Wissen unter Beweis stellt. Gleichzeitig lenkt diese Breite jedoch immer wieder von den zentralen Argumentationslinien ab, sodass man sich an manchen Stellen fragt, ob eine Konzentration auf Kernfragen, wie im Kapitel über Evgenij Bauėr, nicht sinnvoller gewesen wäre. Ungeachtet dessen löst die Autorin das Versprechen, „die Sicht auf verstellte Namen und Beziehungen frei[zu]geben“ (S. 39), in mehrfacher Hinsicht ein. Dazu gehören – um nur ein Beispiel zu nennen – die Berührungspunkte zwischen Ikone und Kino, die Drubek sorgfältig herausarbeitet: das Arbeiten mit Licht, der Ontologieanspruch der beiden Medien, die Zugänglichkeit durch Kopien, die arbeitsteilige Herstellung oder der Effekt des Flimmerns, der durch das Flackern der Kerzen im Kirchenraum und durch die Projektion der Einzelbilder im Kino entsteht. Zu guter Letzt wäre freilich noch „die anagrammatische Verschränkung“ der beiden Wörter Ikone und Kino (S. 40) zu nennen, durch deren explizite Erwähnung die Autorin ihre Vorliebe für a-semantische Phänomene nicht nur im Film, sondern auch in der Sprache verrät.
Zitierweise: Eva Binder über: Natascha Drubek: Russisches Licht. Von der Ikone zum frühen sowjetischen Kino. Wien [etc.]: Böhlau, 2012. 527 S., zahlr. Abb. = Osteuropa medial, 4. ISBN: 978-3-412-20456-3, http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Binder_Drubek_Russisches_Licht.html (Datum des Seitenbesuchs)
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