Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Dietrich Beyrau, Tübingen

 

Rotarmisten in deutscher Hand. Dokumente zu Gefangenschaft, Repatriierung und Rehabilitierung sowjetischer Soldaten des Zweiten Weltkrieges. Hrsg. von Rüdiger Overmans / Andreas Hilger / Pavel Polian in Zusammenarbeit mit Reinhard Otto und Christian Kretschmer. Paderborn [usw.]: Schöningh, 2012. 956 S. ISBN: 978-3-506-76545-1.

Die Dokumentation über die sowjetischen Kriegsgefangenen in Deutschland und im deutsch besetzten Europa bilanziert den gegenwärtigen Forschungsstand zu demneben der Ermordung der Juden Europasgrößten Kriegsverbrechen der Nationalsozialisten. Wie bekannt, haben von den etwas über 5 Millionen Kriegsgefangenen knapp 2 Millionen überlebt (siehe den Anhang S. 863–866). Die Sterblichkeit in Lagern für sowjetische Kriegsgefangene lag bei über 50 %, in Lagern für französische Kriegsgefangene bei knapp 3% (S. 23).

Im Vorwort setzen sich die Herausgeber eingehend mit Thesen Christian Gerlachs und Alex J. Kays von einemHungerplannationalsozialistischer Instanzen auseinander (Christian Gerlach: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944. Hamburg 1999, hier S. 46–59; Alex J. Kay: Verhungernlassen als Massenmordstrategie, in: Zeitschrift für Weltgeschichte 11 [2008], S. 93–103.). Es geht um die These vom systematischen Sterbenlassen sowjetischer Kriegsgefangener, um vorhandenen Nahrungsmittelüberschüsse für die Wehrmacht und für den Export nach Deutschland zu reservieren. Die Herausgeber bestreiten diese These mit dem Argument, Hitler habe bereits relativ früh im Herbst 1941 den Einsatz sowjetischer Kriegsgefangener für die deutsche Wirtschaft angeordnet. (Eine solche Anordnung selbst wird hier allerdings nicht dokumentiert; S. 3132.) Die mir etwas kapriziös erscheinende Leugnung eines Hungerplans wird insofern relativiert, als die Herausgeber die Priorität der Versorgung der Wehrmacht aus dem Lande und das hingenommene Sterben der Kriegsgefangenen in den vielfach improvisierten Lagern, später auch in Deutschland, nicht bestreiten und vielfach dokumentieren (exemplarisch vgl. S. 198–204). Zwar sahen sich selbst führende Angehörige der Partei veranlasst, die Propaganda vom Russen alsBestie, die verreckenmüsse (S. 96), einzustellen, aber es blieb bei einer ungezügelten Feindrhetorik und der Aufforderung, den Bolschewismus alsTodfeindzu betrachten und die sowjetischen Soldaten alsTräger des Bolschewismus(S. 184) entsprechend zu behandeln. Hinzu kam, dass von Anfang an die völkerrechtlichen Bestimmungen über den Umgang mit den sowjetischen Kriegsgefangenen nicht anerkannt wurden. Die sowjetische Forderung nach reziproker Anwendung der völkerrechtlichen Bestimmungen wurde ganz bewusst nicht auf ihre Seriosität hin geprüft (S. 72–122).

Der Streit um die Existenz und Geltung eines Plans oder die Hinnahme des massenhaften Sterbens der sowjetischen Kriegsgefangenen lässt sich anhand der hier abgedruckten Dokumente nicht beantworten, nicht zuletzt deshalb, weil hierfür die allgemeinen Grundsätze der Kriegs-, Eroberungs-, Bevölkerungs- und Rassenpolitik stärker hätten berücksichtigt und dokumentiert werden müssen. Hier geht es eher um die Umsetzung dieser Politiken am Beispiel der sowjetischen Kriegsgefangenen.

In den abgedruckten Zeugnissen sind folgende Positionen festgehalten: Auf der einen Seite ein erstaunlich wütender Protest ausgerechnet von Alfred Rosenberg. Er beklagte die fatalen Wirkungen auf die nicht-russischen Völker der besetzten Gebiete, dies mit Blick auf seine Konzeption desdivide et impera(S. 180–184). Dann gab es vereinzelt Versuche und Appelle, im Namen derEhreder Wehrmacht die sowjetischen Kriegsgefangenenanständigzu behandeln (S. 151). Eher rechtfertigendalso vielleicht mit einem Rest von schlechtem Gewissenentschuldigte etwa der Leiter des Kriegsgefangenenwesens Hans von Graevenitz die hohen Sterberaten mit allgemeinen logistischen Problemen, mit der sowjetischen Politik der verbrannten Erde bzw. der Entleerung der verlassenen Gebiete und mit der Beobachtung, dass die eingekesselten sowjetischen Soldaten bereits halb verhungert in Gefangenschaft geraten seien (S. 195–196). Am anderen Ende der Verhaltensskala steht ein Vorschlag vom Januar 1942, die nicht arbeitsfähigen Kriegsgefangenen einfach zu erschießen, um die Überlebenden für den Arbeitseinsatz ausreichend kleiden und ernähren zu können (S. 560–561).

Die Argumente der Herausgeber sollen gestützt werden vor allem durch die Dokumente in den Abschnitten 2.1 bis 2.3. Hier geht es um die Organisation der Lager, um die Bevorzugung der Angehörigen nicht-russischer Völker, um die Sicherung der Lager und nicht zuletzt um den Arbeitseinsatz der Kriegsgefangenen (Abschnitt 2.7). Spätestens seit dem Winter 1941/42, als die täglichen Sterberaten immer noch bei über 1 % lagen (S. 202), stand bereits auf allen Seiten deroptimale“ Arbeitseinsatz der sowjetischen Kriegsgefangenen im Vordergrund.Optimal“ hießso wenig Ernährung wie möglich und so viel Ausbeutung wie möglich (S. 205–209; siehe auch die Ernährungstabellen im Anhang). Erst seit dem August 1944 wurden die Ernährungssätze denen für andere Kriegsgefangene angepasst (S. 594).

Die Vorschriften über den Arbeitseinsatz der sowjetischen Kriegsgefangenen wurden im Laufe der Jahre vor dem Hintergrund eines drängenden Arbeitskräftemangels gelockert. Gleichwohl blieben die Überlebenschancen prekär. Industrie und Bergbau und die Wehrmacht machten sich gegenseitig verantwortlich für die hohen Kranken- und Sterberaten und die geringe Belastbarkeit der Kriegsgefangenen (S. 595–606). DerVerschleißan diesen Arbeitskräften (wie an denen der Konzentrationslager) wurde faktisch von fast allen Seiten ohne größere Proteste hingenommen.

Weitere Kapitel behandeln den Kommissarbefehl, dieAussonderungund massenhafte Exekution von wie es hieß untragbarenElementen unter den Rotarmisten, dann auch die Versorgung und medizinische Betreuung bzw. Unterversorgung, die Unterbringung der Kriegsgefangenen, Widerstand und Flucht und schließlich kurz vor der Niederlage die Versuche Himmlers, die Kriegsgefangenen doch noch gegen den sowjetischen Vormarsch zu mobilisieren.

Ein dritter, vergleichsweise kurzer Teil dokumentiert die sowjetische Politik im Umgang mit den gefangen genommenen und eingekesselten Rotarmisten. Neben dem Abdruck der bekannten Gesetze und Befehle über dieVaterlandsverräterund der immer interpretierbaren Dekrete über ihre Bestrafung und über die Sippenhaft ihrer Angehörigen gilt die besondere Aufmerksamkeit dem Prozess der Filtrierung, d. h. der Kategorisierung der alsehemalige Rotarmistenbezeichneten Kriegsgefangenen. Je nach festgestellterUnschuld, nach Verdacht oder nachgewiesener Belastung wurden die Kriegsgefangenen in die Heimataber nicht in die Hauptstädte, in die Rote Armee, in Strafkommandos der Roten Armee oder in diverseSpezialkontingente(mobile Zwangsarbeitsverbände) des NKVD geschickt. Nur bei Nachweis (oder auch nur Verdacht) der Zugehörigkeit zu polizeilichen oder militärischen Verbänden unter deutscher Kontrolle wurden Heimkehrer in die Lager oder in die Verbannung geschickt. (Hier hätte man sich noch einmal zusammenführende statistische Angaben über die Anzahl der unterschiedlichen Kategorien gewünscht). Bei der Kategorisierung der Repatrianten hat man den Eindruck, dass seit 1944/45 arbeitspolitische Gesichtspunkte eine ebenso große Rolle gespielt haben könnten wie die Absicht zu bestrafen (S. 794–795, 808–811).

Im dritten Teil finden sich auch diplomatische Korrespondenzen, in denen es hauptsächlich um die Frage der (erzwungenen) Rückführung der sowjetischen Kriegsgefangenen aus den von den westlichen Alliierten besetzten Gebieten geht. Wichtigster Streitpunkt zwischen den USA und Großbritannien auf der einen und der UdSSR auf der anderen Seite war der Umgang mit Rotarmisten, die aus Gebieten stammten, die erst 1939/40 von der Sowjetunion okkupiert und annektiert worden waren. Nachdem alle amerikanischen, britischen und vor allem alle französischen Kriegsgefangenen, die sich in den von den Sowjets befreiten Gebieten befunden hatten, heimgekehrt waren, rangen sich die USA und Großbritannien 1946 zu einer entschiedeneren Haltung gegenüber den aus den baltischen Ländern und Ostpolen stammenden Kriegsgefangenen durch und setzten deren Optionsfreiheit durch (S. 821–824, 837–838).

Insgesamt handelt es sich bei der vorliegenden Dokumentation um ein sehr verdienstvolles Unternehmen, das die Umsetzung einer verbrecherischen Politik, die sich zu optimieren versucht, anschaulich macht.

Dietrich Beyrau, Tübingen

Zitierweise: Dietrich Beyrau, Tübingen über: Rotarmisten in deutscher Hand. Dokumente zu Gefangenschaft, Repatriierung und Rehabilitierung sowjetischer Soldaten des Zweiten Weltkrieges. Hrsg. von Rüdiger Overmans / Andreas Hilger / Pavel Polian in Zusammenarbeit mit Reinhard Otto und Christian Kretschmer. Paderborn [usw.]: Schöningh, 2012. 956 S. ISBN: 978-3-506-76545-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Beyrau_Overmanns_Rotarmisten_in_deutscher_Hand.html (Datum des Seitenbesuchs)

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