Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Dietrich Beyrau

 

Michael Khodarkovsky: Bitter Choices. Loyalty and Betrayal in the Russian Conquest of North Caucasus. Ithaca, NY, London: Cornell University Press, 2011. XIII, 200 S., Abb., Kte. ISBN: 978-0-8014-4972-7.

Michael Khodarkovsky, Professor an der Loyola Universität von Chicago, ist bereits mit wichtigen Arbeiten zu den Kalmücken und zur Steppengrenze im Russischen Reich bekannt geworden. Sein neues Buch ist einem speziellen Problem, den pluralen und gespaltenen Identitäten vonGrenzgängern, im klassischen Sinne vonMarginalen“, gewidmet. Angeregt hat ihn offensichtlich die Erzählung Leo Tolstojs über denDeserteurHadži Murat. Khodarkovsky interessiert sich für jene Angehörigen der Bergvölker des Nordkaukasus, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf unterschiedlichen Wegenals Geiseln oder Überläuferauf die russische Seite gelangten, in russischen Einrichtungen sozialisiert wurden und in russischen Diensten standen. Dabei wurden sie oft Zeugen der brutalen Feldzüge in die Territorien der Bergvölker oder auch der Überfälle von Angehörigen dergorcyauf russische Forts und Siedlungen.

Der Held, der durch die Monographie führt, ist Semen Semenovič Atarščikov, 1807 in der Kosakensiedlung Naurskaja am Terek geboren, Sohn eines tschetschenischen Vaters, der als Geisel in Astrachan erzogen wurde, und einer nogajischen Mutter. Der Vater war zum Christentum übergetreten und diente auf russischer Seite. Der Sohn Semen erhielt eine russische Ausbildung, wurde aber zur weiteren Erziehung nach Karabudachkent am Kaspischen Meer geschickt und lernte dort in der Familie eines mit den Russen zusammenarbeitenden Würdenträgers Tschetschenisch, Kumykisch und Arabisch.

Der weitere Lebensweg Atarščikovs: Dienst in Kosakenregimentern an der Kaukasischen Linie, zuletzt bei einem General Georg Christoph von Sass. Von der Festungslinie am Kuban aus organisierte dieser General blutige Expeditionen ins Gebiet der tscherkessischen Völker. Von Sass war ein Anhänger der Politik des einstigen Statthalters Aleksej P. Ermolov (1817–1827). Diese Strategie lief auf eine brutale Unterwerfung, Verdrängung und zur Not auch Vernichtung der Bergvölker hinaus. General von Sass beeindruckte sein russisches Umfeld, aber auch diegorcydurch Brutalität, taktisches Geschick, durch Tricks und Taschenspielereien. Er umgab seine Residenz mit aufgespießten Tscherkessenköpfen (S. 134). Atarščikov hatte zuvor in Petersburg im dortigen exotischen Tscherkessischen Garderegiment gedient, von dort aus auch 1830–32 an der Kampagne gegen die polnischen Aufständischen teilgenommen. Trotz seiner vielen Verdienste und einiger Auszeichnungen, u. a. wegen einer Forschungsexpedition nach Svanetien, blieb sein Aufstieg in russischen Diensten begrenzt. Er verharrte im Status eines Fahnenjunkers, obwohl er einige Jahre auch als Kommissar (pristav), als Bevollmächtigter und Aufpasser des Zaren, in Karačaj im Gebiet der Bergvölker eingesetzt war.

Atarščikov war einer von vielen Angehörigen von Bergvölkern, die sich der russischen Eroberungspolitik zur Verfügung stellten. Zum Teil waren seine konnationalen Gefährten und Bekannten erfolgreicher, entweder weil sie in intellektuellen Milieus reüssierten oder weil sie Familien von Würdenträgern entstammten und so leichter von adligen Offizieren akzeptiert wurden. Atarščikov sagte man gelegentlich Sympathien für seine Landsleute jenseits der Kaukasuslinie nach, was der Karriere nicht förderlich gewesen sein mag, auch wenn er die volle Protektion ausgerechnet des brutalen von Sass genoss.

Atarščikov lief 1841, zu einer Zeit, als Šamils Imamat auch im westlichen Kaukasus Einfluss zu gewinnen schien, zu einem befreundeten Würdenträger über, kehrte aber nach vier Monaten, im Januar 1842, auf die russische Seite zurück. Als er daraufhin nach Finnland in ein dortiges Kosakenregiment entsandt, faktisch wohl verbannt, werden sollte, desertierte er ein zweites Mal. Nun konvertierte er zum Islam und beteiligte sich an erfolglosen Überfällen auf russische Forts. 1845 wurde er von einem flüchtigen Kosaken erschossen, der sich mit der Ermordung Atarščikovs die Begnadigung und eine Belohnung erkaufen wollte.

Atarščikov steht hier mit vielen anderenGrenzgängern, deren Karrieren skizziert werden, im Mittelpunkt der Darstellung. In seinem Helden erkennt Khodarkovsky die typische Situation jener Angehörigen der Bergvölker, die in mancher Hinsicht von der russischen Seite profitierten, aber angesichts der russischen Politik auch litten undjedenfalls in der ersten und zweiten Generationin die russischen Milieus nicht wirklich hineinwuchsen. Bei Atarščikov kam hinzu, dass er keiner Familie von Würdenträgern entstammte und auf russischer Seite kein angemessenes Gegenüber fand. Atarshchikov […] seemed to have fallen into the netherworld. He was too lacking in the glamour and exotism of his Circassian peers to be of interest to the Russians and was too much of a Russian commoner to be included in the Circassian social elite. In a sense, he was the classic predicament of an interpreter, a traditional intermediary between two cultures who was equally at ease in both while never fully belonging to either.“ (S. 89)

Etwas problematisch und eigentlich unnötig finde ich das gelegentliche Verfahren des Autors, dort Lücken durchEinfühlung glauben füllen zu müssen, wo sich Zeugnisse nicht finden lassen. Dies gilt für Situationen blutiger Feldzüge, deren mittel- oder unmittelbarer Zeuge Atarščikov gewesen sein muss (S. 95), oder auch für mehr oder minder fiktive Reiseeindrücke (z.B. S. 43).

In der Monographie liegt aber insgesamt ein geglückter Versuch vor, die bisher dominierenden ethnologischen Studien oder Kriegsdarstellungen durch eine subjektive Dimension derVermittlerundGrenzgängerzu erweitern, die selbst im Krieg für beide Seiten unverzichtbar waren. Durch ihr Wissen trugen sie einerseits zur Unterwerfung der Kaukasusvölker bei, andererseits stellten siein weniger konfrontativen Zeiten, etwa unter dem Statthalter Michail S. Voroncov (1845–1855)die notwendige, wenn auch asymmetrische Verbindung her zwischen der russischen Herrschaft und dem Überleben der einheimischen Völker.

Dietrich Beyrau, Tübingen

Zitierweise: Dietrich Beyrau über: Michael Khodarkovsky: Bitter Choices. Loyalty and Betrayal in the Russian Conquest of North Caucasus. Ithaca, NY, London: Cornell University Press, 2011. XIII, 200 S., Abb., Kte. ISBN: 978-0-8014-4972-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Beyrau_Khodarkovsky_Bitter_Choices.html (Datum des Seitenbesuchs)

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