Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Dietrich Beyrau, Tübingen

 

Sergej V. Jarov: Blokadnaja ėtika. Predstavlenija o morali v Leningrade v 1941–1942 gg. Moskva: Centrpoligraf, 2012. 603 S. ISBN: 978-5-227-03767-1.

Die Tragödie des belagerten Leningrads im Zweiten Weltkrieg ist inzwischen Gegenstand einer schon unüberschaubaren Literatur gewordenTagebücher, Erinnerungen, (populär-)wissenschaftliche Darstellungen und literarische Bearbeitungen. (Den neueren Forschungsstand vgl. bei Jörg Ganzenmüller: Das belagerte Leningrad 1941–1944. Paderborn [usw.] 2005 [= Krieg in der Geschichte 22].) Sergej Jarov, der bisher durch Publikationen über die Bevölkerung Petrograds in Revolution und Bürgerkrieg bekannt geworden ist, hat nun eine Monographie unter dem TitelBlockade-Ethikvorgelegt. Gegen die vergangene heroisierende Präsentation von Widerstand und Überleben stellt er anhand von publizierten und nicht publizierten Tagebüchern, Briefen und Erinnerungen die subjektiven Erfahrungen von Hunger und Überleben dar. Dabei will er allerdings nicht stehen bleiben, sondern auch dieEthikunter den Bedingungen der Blockade analysieren. Dieser Begriff und seine Umsetzung als Wegweiser der Darstellung und Interpretation werden allerdings nicht weiter erläutert. Dem Text ist zu entnehmen, dass es ihm um die (Selbst-)Rechtfertigung eigenen Tuns oder Unterlassens in den subjektiven Zeugnissen geht, um moralische Normen, ihre Gefährdung oder Verletzung durch die Hungerkatastrophe im Winter 1941/1942. Er skizziert das grundsätzliche Dilemma, dass eigenes Überleben oft nur auf Kosten anderer möglich war, dass Behörden und Amtspersonen mit der Verteilung von Lebensmittelkarten, mit der Kategorisierung der Bewohner als Fachmann, Fachfrau, (Schwer-)Arbeiter(in), Familienangehörige(r), mit der Zuteilung eines Arbeitsplatzes in besser oder schlechter versorgten Betrieben und nicht zuletzt mit der Zuweisung eines Platzes in Krankenhäusern, Waisenhäusern und anderen Zufluchtsstätten über Leben und Tod entschieden. Das Spektrum an möglichen Entscheidungen, Unterlassungen und moralischer Verhaltensweisen hat der Literaturwissenschaftler Dmitrij S. Lichačev vor Jahren schon in folgendem Satz zusammengefasst:Auf Schritt und Tritt Niedertracht und Edelmut, Selbstaufopferung und extremer Egoismus, Diebstahl und Ehrlichkeit. (Dmitrij S. Lichatschow: Hunger und Terror. Mein Leben zwischen Oktoberrevolution und Perestroika. Ostfildern 1997, S. 276.) Dieser Satz hätte als Motto der Monographie Jarovs vorangestellt werden können. Auf 600 Seiten werden anhand eines notwendigerweise begrenzten Samples von Selbstzeugnissen eine unendliche Vielzahl von Beispielen für Hilfe, Fürsorge, unterlassene Hilfe oder mehr oder minder schwere Betrügereien aneinandergereiht. Jeder Fall wird auf Strategien der Selbstrechtfertigung hin geprüft. Als moralische Normen werden (in Teil 1, Kapitel II) Vorstellungen von Ehre, von Gerechtigkeit, von Mitleid und Barmherzigkeit sowie die Einstellung gegenüber Diebstahl vorgeführt. In den folgenden Kapiteln geht es um Zwangslagen, moralische oder unmoralische Entscheidungen und Unterlassungen, und immer wieder Selbstrechtfertigungen im Umgang mit Familienangehörigen, Freunden, Kollegen, Untergebenen, Nachbarn, Kindern und Jugendlichen oder auch Fremden. All diese Entscheidungen und Situationen werden auf ihreEthikhin gewichtet. Anschaulich werden dabei Situationen in Kantinen, beim Schlangestehen, das Verhalten gegenüber zusammenbrechenden Personen auf der Straße oder am Arbeitsplatz, gegenüber Dystrophikern, Dieben und Bettlern, der Umgang mit Sterbenden und vor allem auch mit den Toten geschildert. Die hier immer wieder erforderlichen moralischen Entscheidungen(unterlassene) Hilfe, Fürsorge für Andere, Teilen, Ausnutzen von kleinen und größeren Vorteilen oder Privilegien, Flucht in Arbeit oder in irgendeine Form von Beschäftigung einschließlich des Tagebuch-Schreibensgeben gute Einblicke in den Alltag der Bevölkerung und ihre Selbstrechtfertigungen. Vergleichsweise knapp und nicht sehr ergiebig bleibt die Darstellung der privilegierten Bevölkerungsgruppen und ihrer moralisch-politischen Entscheidungen. Eher beiläufig wird ihre Orientierung auf den totalen Krieg und den absoluten Vorrang strategischer Gesichtspunkte bei der Kategorisierung der Bevölkerung problematisiert. Dabei wurde das Ausmaß der Katastrophe des Winters 1941/42 durch einen heroischen Gestus und durch Zensur und Propaganda überspielt (Teil 2, Kapitel III).

Trotz der Schwerpunkte in den einzelnen Kapiteln ist die Darstellung chaotisch und redundant. Über die sich wiederholende Beschwörung moralischer Dilemmata und Selbstrechtfertigungen kommt die Darstellung nicht hinaus. Sie liefert viele Einblicke in den grausamen Alltag. Dieser ist aberentgegen der Behauptung des Autorsschon oft Gegenstand von Darstellungen und Zeugnissen aller Art gewesen. Angesichts vieler paralleler Situationen von Zwang und Hunger in der Zeit des Zweiten Weltkrieges hätte, um die Spezifik der Leningrader Tragödie herauszuarbeiten, ein wenigstens indirekterVergleich mit analogen Situationen des Hungerns und Verhungerns in Lagern, Ghettos oder in Städten unter deutscher Besatzung nicht schaden können. So verbleibt die Darstellung in einem merkwürdigen Zustand, der auf das Historisch-Spezifische der Situation Leningrads nicht eingeht und grundsätzlichere anthropologische Fragen im Ungefähren belässt. Die Zeugnisse, zumeist von Angehörigen der Intelligencija, und ihre spezifische Sichtweise, die weitgehend auch die des Autors ist, werden nicht weiter analysiert. Ebenso wenig werden die spezifisch sowjetischen mentalen Vorprägungen und Strukturen herausgearbeitet, innerhalb derer sich die Bevölkerung zu bewegen hatte und diemöglicherweiseauch ihre moralischen Normen mitbestimmt haben. Einer mehr fundamentalen Analyse menschlichen Verhaltens unter den Bedingungen der Unterernährung, des Hungerns, der Mangelkrankheiten und der ständigen Gegenwart von Sterbenden und Leichen steht die Beschränkung auf eine unendliche Vielzahl von Einzelbeispielen und die Fixierung auf eineEthikentgegen, die für eine Beschreibung und Analyse menschlichen Verhaltens zu eng gefasst ist.

Dietrich Beyrau, Tübingen

Zitierweise: Dietrich Beyrau, Tübingen über: Sergej V. Jarov: Blokadnaja ėtika. Predstavlenija o morali v Leningrade v 1941–1942 gg. Moskva: Centrpoligraf, 2012. 603 S. ISBN: 978-5-227-03767-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Beyrau_Jarov_Blokadnaja_etika.html (Datum des Seitenbesuchs)

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