Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 1 (2011), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Rainer Bendick

 

Stéfanie Burgaud: La politique russe de Bismarck et l’unification allemande. Mythe fondateur et réalités politiques. Strasbourg: Presses Universitaires de Strasbourg, 2010. 504 S., Tab., Kte. = Les mondes germaniques. ISBN: 978-2-86820-406-6.

Zu den Standards des deutschen Bismarckbildes gehört der „gute Draht“ des preußischen Ministerpräsidenten und späteren Reichskanzlers nach Russland. Dessen „wohlwollende Neutralität“ habe Bismarcks Einigungspolitik erst möglich gemacht und sei ein Ergebnis der Politik, die Bismarck, beginnend mit der Konvention Alvensleben, seit 1863 gegenüber Russland betrieben habe. Bismarck selbst entwickelte diese Sichtweise in seinen Memoiren. Die borussische Geschichtsschreibung des späten 19. und des 20. Jahrhunderts kanonisierte sie so, dass sie bis heute in deutschen Schulgeschichtsbüchern zu finden ist. Die wissenschaftliche Historiographie hat die Vorstellung von der „wohlwollenden Neutralität“ Russlands in den Jahren nach 1863 nie grundsätzlich in Frage gestellt. Das lag auch daran, dass die russischen Quellen kaum zugänglich waren.

Die Arbeit der jungen französischen Historikerin Stéfanie Burgaud räumt mit dieser traditionellen Sichtweise gründlich auf. Sie wurde 2007 an der Sorbonne als Doktorarbeit mit dem besten Prädikat angenommen und erhielt im folgenden Jahr den „Prix Pierre Grappin“, den die französischen Germanisten für herausragende Forschungsleistungen vergeben. In der Tat besticht Stéfanie Burgauds Arbeit durch die umfangreichen Recherchen nicht nur in den einschlägigen deutschen Archiven (dem Geheimen Staatsarchiv, Berlin Dahlem; dem politischen Archiv des Auswärtigen Amts, Berlin; dem Archiv der Otto von Bismarck Stiftung, Friedrichsruh), sondern gerade auch in russischen Archiven. Stéfanie Burgaud hat in Moskau die Bestände des russischen Auswärtigen Amts und die Nachlässe führender russischer Diplomaten ausgewertet. So ist es ihr gelungen, den Nachlass des Fürsten Gorčakov ausfindig zu machen und auszuwerten, der lange westlichen Forschern nicht zugänglich war, ebenso wie die Nachlässe anderer russischer Spitzendiplomaten und Politiker wie Ignatev, Miljutin, Konstantin oder Budberg. Ferner hat sie ausführlich die zeitgenössische Presse und die preußischen Parlamentsdebatten analysiert. Durch diese Berücksichtigung der öffentlichen Meinung hat sie den Rahmen einer rein diplomatiegeschichtlichen Arbeit sinnvoll erweitert.

Die Arbeit beginnt mit einem historiographiegeschichtlichen Abriss der Bewertungen, die Bismarcks Russlandspolitik seit dem 19. Jahrhundert erfahren hat, und der daraus überzeugend entwickelten Formulierung des Desiderats einer quellengestützten Untersuchung der russisch-preußischen Beziehungen. Ein nützlicher Überblick zur komplizierten Situation der Bestände in russischen und deutschen Archiven schließt die Einführung ab. Die Forschungsergebnisse sind in drei Teile gegliedert, die der Entstehung und Wirkung der Konvention Alvensleben 1863, der Vorbereitung des preußisch-österreichischen Kriegs 1866 und schließlich den diplomatischen Aktionen im Vorfeld des deutsch-französischen Kriegs und der Reichsgründung 1870/71 gewidmet sind. Diese Teile sind aus den Quellen geschrieben und werfen ein neues Licht auf Bismarcks Russlandpolitik und auf die russische Politik gegenüber Preußen. Ein umfangreicher Anhang liefert zahlreiche Karten, dynastische Genealogien und vor allen bislang unveröffentlichte Quellen aus russischen Archiven. Ein Personenindex mit Kurzbiographien schließt die Studie ab, die von zahlreichen zeitgenössischen Bismarckkarikaturen illustriert wird.

Die wesentlichen Ergebnisse, die Stéfanie Burgaud vorlegt, betreffen den Mythos der Konvention Alvensleben als Gründungsakt einer scheinbar privilegierten preußisch-russischen Partnerschaft und sodann das angebliche russische Wohlwollen gegenüber der Bismarckschen Politik 1866 und 1870/71.

Die Konvention Alvensleben war, so erklärt Stéfanie Burgaud, nur ein Versuch Preußens sich im Konzert der Großmächte zu etablieren, nicht aber Ausdruck einer besonders russlandfreundlichen Politik Bismarcks. Russlands Interesse war auf den Orient bezogen, auf die Aufhebung der Klauseln des Pariser Vertrags, die das Schwarze Meer neutralisierten und Russlands Souveränität einschränkten. Bismarck unterstützte jedoch diese für Russland entscheidenden Forderungen nicht, sondern suchte die Verständigung mit Frankreich. Stéfanie Burgaud betont, dass seine Politik also eher französisch als russisch war. Die Leistung der französische Diplomatie erscheint hier in einem kritischen Licht: die französische Weigerung, die russischen Interessen in Polen, vor allem aber im Orient ernst zu nehmen, verhinderte den Erfolg der russischen Bemühungen, die preußischen Ambitionen einzudämmen, weil den Russen der Bündnispartner im Westen fehlte. Zwar nahm Russland gegenüber Bismarcks Einigungskriegen eine de facto-Neutralität ein, die aber nie „wohl­wollend“ war und Bismarcks Aktionen nicht aktiv stützte. Vielmehr gingen von Russland die einzigen entscheidenden Versuche aus, Bismarcks Politik nachhaltig zu durchkreuzen. Die überaus exakte Auswertung der russischen Quellen rückt zahlreiche, bislang unbekannte Dokumente in den Fokus, die nun mit genauer Signatur und mit Aufbewahrungsort nachgewiesen werden. Auch in dieser epistemologischen Hinsicht ist die vorliegende Arbeit bemerkenswert, weil sie der bislang auf west- oder zentraleuropäische Bestände konzentrierten Forschung neue Aspekte aufzeigt.

Stéfanie Burgaud belegt an den russischen Quellen, dass Petersburg ein großes Interesse am Erhalt des Status quo in Europa hatte, der unter keinen Umständen zum Nachteil der Macht Russlands verändert werden sollte. Andernfalls fürchte man, dass die Revision des Pariser Friedens in weite Ferne rücken würde. Preußen erschien in dieser Perspektive aber als ein Unruhestifter. So wünschte Gorčakov in einem Memorandum an den Zaren vom Mai 1866 einen deutlichen Sieg Österreichs in Deutschland und in Italien. Werde Österreich aus Deutschland verdrängt, könne es, fürchtete der russische Kanzler, sich dem Orient zuwenden und vitale russische Interessen gefährden.

Nach den preußischen Siegen musste sich die russische Politik notgedrungen neu orientieren. Sie blieb aber, wie die Sympathien für einen europäischen Kongress zur Lösung des zunächst preußisch-, dann deutsch-französischen Konflikts belegen, zurückhaltend gegenüber der preußisch inszenierten deutschen Einheit. Die schließliche Verbindung zwischen der Herstellung der deutschen Einheit und der Londoner Pontuskonferenz, die Russlands Rechte im Schwarzen Meer wiederherstellte, beförderte die Vorstellung von einer angeblich freundschaftlichen russisch-preußischen Zusammenarbeit und dessen Korrelat, den Mythos eines seit 1863 anhaltenden russischen Wohlwollens gegenüber Bismarcks Politik. Stéfanie Burgaud ist es in ihrer gut lesbaren Arbeit gelungen, diesen Mythos zu dekonstruieren.

Rainer Bendick, Osnabrück

Zitierweise: Rainer Bendick über: La politique russe de Bismarck et l’unification allemande. Mythe fondateur et réalités politiques, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Bendick_Burgaud_La_politique_russe_de_Bismarck.html (Datum des Seitenbesuchs)

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